ID | 52 | Titel | Ein Denkmal mittelalterlicher Rechte und Moralauffassung in Unterwellenborn | Jahr | 1958 | Autor | Künstler, Dr. Richard | Region | Thüringen | Inhalt | Moral und Recht sind, wie mitunter noch angenommen wird, keineswegs absolute, unveränderliche, immer gültige Begriffe und Gesetze. Ein Blick in die Geschichte lehrt uns, daß sich die Moral- und Rechtsauffassungen im Laufe der Jahrhunderte gewandelt haben und daß sie von der jeweils herrschenden Klasse abhängig sind. Ihr Klassencharakter steht daher außer jedem Zweifel. Selbst die Kirche hat sich mit ihren „göttlichen“ Geboten stets der herrschenden Klasse anzupassen gewußt oder sich sogar zu ihrem Handlanger gemacht. Das erkennen wir heute am deutlichsten an der Rolle der Kirche im Adenauer- Staat, wo aufrechte Patrioten und politische Gegner der herrschenden kapitalistischen Klasse eingekerkert und zu Tode gehetzt werden.
Eine völlig andersartige Moral,- und Rechtsauffassung mach, sich in unserem Arbeiter- und- Bauern, Staat geltend. Sie wird von der sozialistischen Gesellschaftsordnung her bestimmt. Erst langsam beginnt sich bei uns dieses neue Moral, und Rechtsempfinden in den vielseitigen Beziehung der Menschen zueinander durchzusetzen und sich von den alt überkommenen Formen der bürgerlichen Moral zu lösen.
Um das sich anbahnende Neue klarer erkennen und richtig einschätzen zu können, sollen hier einmal zum Unterschied die mittelalterlichen Rechtsverhältnisse des Feudalismus etwas näher beleuchtet werden. Diese haben nicht nur in schriftlichen Überlieferungen ihren Niederschlag gefunden, an sie erinnern zuweilen noch steinerne Denkmäler, die meist unbeachtet am Wegesrand oder in einem vergessenen Winkel des Dorfes stehen und deren Sinn im Volke längst verblaßt ist, es sei denn, daß hie und da noch düstere Sagen und Spukgeschichten von Mord und Totschlag um diese Steine geistern. Ein solches Denkmal stand noch bis vor einem Jahre unweit des Bahnhofs Unterwellenborn an der Hauptstraße und am Zufahrtswege zum Zementwerk dicht hinter dem Zaune des Gemeindegartens (Abb. 1). Es war ein roher, kunstloser, aufrecht stehender Stein aus bräunlich- gelbem Zechsteinkalk. Er erhob sich etwa 1 m über dem Erdboden, hatte eine größte Breite von 0,50 m sowie eine durchschnittliche Stärke von 0,23 m und ließ deutlich die Gestalt eines Kreuzes erkennen, obwohl der eine (linke) Arm bis auf einen Stumpf ,wohl schon in früherer Zeit abgeschlagen worden war. Wie lange schon das Steinkreuz hier gestanden haben mag und ob das wirklich sein ursprünglicher Standort war, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Altere Einwohner wollen noch wissen, daß es einst an der gleichen Stelle erhöht auf einer Straßenböschung stand 1). Viele Unterwellenborner mögen es kaum beachtet und manche überhaupt nicht gesehen haben.
Seit sich der Gemeindegarten in einen Bauplatz verwandelt hat, auf dem jetzt das neue Sozial- und Verwaltungsgebäude des VEB Zementwerk Unterwellenborn errichtet wird (Abb. 2), hat dieses alte Steinkreuz weichen müssen. Um es vor weiteren Beschädigungen zu schützen, wurde es aus, ,gegraben und in das Fundament des Neubaues eingemauert (Abb. 3). Dabei zeigten sich die erstaunlichen Ausmaße des Kreuzes, das bei einer Gesamtlänge von 3,85 m fast bis zur Hälfte im Erdreich steckte. Leider hat es durch diese wohlgemeinte fürsorgliche Maßnahme seinen körperhaften Charakter gänzlich verloren und wirkt nur flächig, sofern es im Mauerwerk nach dem Verputzen noch sichtbar bleibt. Dieses Verfahren des Einbindens hatte vielleicht einmal seine Berechtigung, als es noch keinem Denkmalschutz gab.
Heute ist man längst davon abgekommen. Es ist deshalb zu bedauern, daß sich die Bauleitung nicht vorher von dem Kreisbeauftragten für Denkmalsschutz hat beraten lassen und dein Denkmal nicht einen würdigeren, ebenso sicheren Platz vor dem Gebäude gegeben hat. Das ist um so bedauerlicher, als uns im Kreise Schaltern nur ganz wenige solcher Denkmäler erhalten geblieben sind (außer diesem in Gorndorf, Oberwellenborn, Birkigt - jetzt im Klosterhofe des Heimatmuseums - Fischersdorf, Marktgölitz, Neidenberga und ein eingemauertes in Hockeroda). In Jena beispielsweise ging man umgekehrt vor und stellte ein altes, einst eingebundenes Steinkreuz vor dem Kreisgericht wieder auf.2)
Keine Inschrift, keine noch so einfache bildliche Darstellung kann uns über Sinn und Zweck des Steinmals aufklären. Keine lokale Überlieferung, keine Sage weiß - soweit uns bekannt - über den Grund seiner Errichtung zu erzählen. Die von Willi Schweinbach bearbeitete Pfeifersche Chronik von Unterwellenborn3) erwähnt wohl das Kreuz, ergeht sich aber auch nur in vagen Vermutungen darüber. Welche Bedeutung kann also dieses Steinkreuz gehabt haben und wie alt mag es schon sein ? Diese Fragen sind nur in größerem Zusammenhang zu beantworten.
Wir kennen nämlich aus verschiedenen Pfarr- bzw. Domarchiven, aber ebenso aus Staats- und Ratsarchiven eine ganze Reihe von Urkunden, in denen zur Sühnung einer Mordtat auf vertraglichem Wege die Errichtung eines Steinkreuzes neben anderen kirchlichen Bußen gefordert wird, so im Kreise Saalfeld von Reschwitz (1441), von Rudolstadt (1443), Orlamünde (1514), von der Leuchtenburg (1483), von Jena (um 1420), Wolfersdorf- Neustadt/Orla (1467), Tautendorf, Kr. Stadtroda (1520), um vor allem in der näheren Umgebung zu bleiben, andere sind uns aus Erfurt (1313 und 1431), Mühlhausen (1447). Eisenach (1472/3), Römhild (1416), Themar (1433) und ebenso aus außerthüringischen Gebieten Deutschlands (Sachsen, Bayern, Hannover) bekannt. Man nennt diese Urkunden „Sühneurkunden“ oder „Sühneverträge“. Sie stammen überwiegend aus dem späten Mittelalter (14. bis 16. Jahrhundert). Danach wurden nun auch die mittelalterlichen Steinkreuze als „Sühnekreuze“ bezeichnet. Diese Sühnekreuze sind also in irgendeiner Art Rechtsdenkmäler, denen ein besonderer Rechtsbrauch im Mittelalter, eben das „Sühneverfahren“ zugrunde lag. Nur dürfen wir uns nicht der Täuschung hingeben, daß nun jedes Steinkreuz ein echtes Sühnekreuz sein müsse. Wir begegneten da und dort auch wesentlich jüngeren Steinkreuzen, die aus einem ganz anderen Grunde ohne Rechtsgrundlage errichtet worden sind, wie z. B. Grabkreuze, oder besonders in katholischen Gegenden die zahlreichen Unfall- und Gedenkkreuze, auch „Marterln“ genannt und sonstige religiöse Andachtskreuze.
Wenn uns auch bisher urkundliche Nachweise zu unserem Unterwellenborner Steinkreuz fehlen, so spricht doch bei einem Vergleich mit der Mehrzahl der thüringischen Sühnemäler seine schlichte, altertümliche, inschriftlose Form entschieden dafür, daß wir es aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem echten Sühnekreuz zu tun haben, das wie sein bei einer Grenzmarkierung im Jahre 1581 urkundlich erwähnter Nachbar in Gorndorf ein Alter von etwa 503 Jahren haben dürfte.
Uns interessiert nun vor allem, welche Bewandtnis es denn mit dem Sühneverfahren hatte und welche Rechtsvorstellungen sich darin widerspiegeln. Die Sühne ist eine Weiterentwicklung der Blutrache. In der Zeit der Urgemeinschaft galt die Blutrache - ein Akt der Vergeltung für ein begangenes Verbrechen am Menschenleben (Mord und Totschlag) - als ein natürliches Recht der Selbsthilfe und Genugtuung („Aug' um Aug' und Zahn um Zahn“), zu der die ganze Sippe verpflichtet war. Auf dieser Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung mag uns der Brauch noch als der Ausdruck eines ursprünglichen Gefühls für Recht und Billigkeit innerhalb der Sippengemeinschaft erscheinen.
Da aber die Blutrache im Laufe der Jahrhunderte4) in endlose Feindseligkeiten und grausame Fehden einzelner Sippen, ja ganzer Volksstämme ausartete, wurde es, wie uns Tacitus in der „Germania“ berichtet, schon bei den Germanen Sitte, sie durch eine mildere Form, das sogenannte „Wergeld“, eine Art Schadenersatzleistung in Gestalt von Vieh an die Geschädigten bzw. Hinterbliebenen, zu ersetzen. Dies geschah im Wege eines Vergleiches zwischen den Beteiligten.
Mit zunehmender Auflösung der alten Gentilordnung jedoch nahm dieser Sühnevorgang immer mehr den Charakter eines Geschäftes an, zumal er eine rein persönliche Angelegenheit der Betroffenen blieb, und trug wesentlich dazu bei, die alte Rechtsordnung und Moral zu untergraben. In der Zeit des aufkommenden Feudalismus begann nun auch die weltliche und geistliche Obrigkeit, zunächst allerdings nur auf Ansuchen der Parteien, sich in das Sühneverfahren einzuschalten und es im eigenen Interesse mehr und mehr zu einer öffentlichen Bußeinrichtung auszugestalten. Der Totschlag wurde jedoch weiter als Privatdelikt behandelt, d. h. ohne strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung, und der Konflikt wurde unter Billigung der Staatsgewalt und mit dem Segen der Kirche schiedlich friedlich durch bestimmte Sühneleistungen und kirchliche Bußen beigelegt. Auch die Kirche hatte bei dem Sühneverfahren keinerlei richterliche Funktion, sie verpflichtete lediglich den Täter um seines und des Erschlagenen Seelenheils willen zu dem sogenannten „Seelgerät“. Es bestand gewöhnlich aus frommen Stiftungen, Seelenmessen, „Seelbädern“, Pilgerfahrten nach Rom und Aachen oder anderen Wallfahrtsorten und schließlich aus dem zu errichtenden Steinkreuz. Das dem Täter auferlegte Seelgerät wurde in den Sühnevertrag aufgenommen.
Mit der Einführung der „Carolina“,. der Peinlichen Hals- und Gerichtsordnung Karls V. vom Jahre 1532, fand das Sühneverfahren sein Ende. Damit entfiel auch das Setzen von Sühnekreuzen. Die Aburteilung von Mördern oblag nunmehr den Gerichten, die der Willkür der Fürsten und des Feudaladels überantwortet wurden.
Gemessen an der verhältnismäßig großen Zahl früher vorhanden gewesener und teilweise noch vorhandener Sühnekreuze auf deutschem und außerdeutschem Boden, können Mord und Totschlag im Mittelalter keine Seltenheit gewesen sein. Und das ist kein Wunder. War es doch dem Mörder leicht gemacht, sich von seiner schweren Schuld loszukaufen und reinzuwaschen. Der ursprüngliche Sühnegedanke zur Wiedergutmachung eines geschehenen Unrechts war im späteren Mittelalter mehr und mehr verflacht und veräußerlicht. Es galt das Recht des Stärkeren, ein Menschenleben war nichts. Es ist auch kaum anzunehmen, daß ein Feudalherr sich verpflichtet fühlte, den Totschlag eines Untergebenen oder eines ihm Unebenbürtigen zu sühnen. Der Sinn für Billigkeit und Gerechtigkeit hatte völliger Rechtswillkür weichen müssen. Die öffentliche Moral hatte am Ausgang des Mittelalters einen erschreckenden Tiefstand erreicht.
In dieser Zeit mag auch unser Unterwellenborner Sühnekreuz gesetzt worden sein. Es ist uns heute ein Markstein und ein Mahnmal auf dem Wege unserer geistig- sittlichen Entwicklung und Erneuerung im Sozialismus. Unmittelbar hinter dem Sühnemal erstrecken sich heute die Werkanlagen der Maxhütte mit ihren Hochöfen und dem Stahlwerk. An diesen Produktionsstätten schaffen heute Tag und Nacht Tausende pflichtbewußter Arbeiter. Techniker und Ingenieure für unseren sozialistischen Arbeiter- und- Bauern- Staat. Dort aber wächst auch im täglichen Kampf um die Planerfüllung langsam und stetig aus dem sozialistischen Bewußtsein der Werktätigen eine neue Arbeits- und Lebensmoral. Im Mittelalter gab es keinerlei gültige und bindende Rechtsnormen. Heute weiß jeder Kumpel, daß unsere Republik ein Rechtsstaat ist, der seine Arbeit und seine Errungenschaften gegen jeden feindlichen Anschlag schützt, er weiß aber auch, daß jeden die harte, aber gerechte Strafe des Gesetzes trifft, der sich gegen diesen Staat vergeht.
1) Frdl. Auskunft von Paul Maiwald, Unterwellenborn
2) Mitteilung über Naturschutz und Denkmalpflege, Thür. Fähnlein, 9. Jahrg. (1940), H. 1, S. 24.
3) Für die mir freundlichst gewährte Einsichtnahme in das Manuskript auch an dieser Stelle dem Bearbeiter, Koll. Willi Schweinbach. Unterwellenborn, herzlichen Dank!
4) Sie wurde stellenweise noch bis ins ausgehende Mittelalter, in Albanien und Korsika sogar noch bis Ins 20. Jahrhundert hinein geübt. Vgl. „Colomba“ von Prosper Mérimée!
Literatur:
Lothar Schott, Totschlagsühne und Steinkreuzerrichtung, Wiss. Zeitschrift der Pädagogischen Hochschule Potsdam, Gesellsch. Sprachw. Reihe, Jahr. 3 (1957), H. 1, S. 41-53.
Richard Künstler. Alte Sühnekreuze im Kreis Saalfeld, Kulturspiegel der Kreise Saalfeld und Pößneck, Juni 1955, S. 3-8.
Gerhard Buchmann, Das Steinkreuz am Wege, Thür. Heimatschutz, Beilage z. Thür. Fähnlein, 5. Jahrg. (1939), Folge 1. S. 1-4.
Herbert Koch, Totschlag und Kreuzstein, Thür. Fähnlein, Jahrg. 7 (1938), H. 5; S. 159-161.
Heinz Deubler, Steinkreuze und aufrechtstehende Kreuze im Kreis Rudolstadt, Rudolstädter Heimathefte. H. 9/10 (1955), S. 256-262.
Eigene Forschungen. | Periodika | Saalfelder Heimat, Februar 1958 | Bestellung | | ISBN | | Typ | Artikel |
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