volkstümliche Bezeichnungen von Flurdenkmalen |
I. Das Spinnerkreuz.
Vor vielen Jahrhunderten lebten zu Wien zwei Garnspinner, die einst am Hochgerichte auf dem Wienerberg miteinander einen Verbrecher
hinrichten sahen. Als der Missethäter herbeigeführt wurde, flüsterte der eine Spinngeselle seinem Kameraden zu: "Möchte doch wissen; wie so'nem armen Sünder zu
Muth ist."
Der andere schwieg, weil er insgeheim selber ein Räuber war. Da er von diesem bösen Handwerke nicht ließ, und mit jeder gelungenen
Frevelthat kühner wurde, ward er entdeckt, gefangen, verhört, überwiesen, und Raub und Mordes Willen zum Tod verurtheilt. Als er nach der Richtstätte geführt wurde,
bemerkte er unter der neugierigen Menge seinen alten Kameraden aus der Spinnstube, und der fürwitzigen Worte desselben, eingedenk, bezeichnete er diesen als
seinen Helfershelfer, der festgenommen und mit ihm zurückgeführt werden müsse.
Der Füher der Wache glaubte seiner Anklage, und der zweite Spinngeselle ward als Räuber gegriffen und nach Wien geführt. Vors Verhör
gezogen, antwortete er in Angst und Betäubung so verworren, daß er sich um den Hals redete, und zum Galgen verdammt wurde.
Bald ging der Zug zum zweiten Male nach dem Wienerberge. Bethend und zagend wankte der Unschuldige fort. Am Hochgerichte unter dem
Rade wendete sich sein Gespan finster zu ihm, schlug ihn heftig ins Gesicht mit den Worten: "Nun weißt Du, wie einem armen Sünder zu Muth ist!" Dann erklährte er,
an die Wache gewendet, den Anderen für einen Schuldlosen, dem er nur einen leichtfertig geäußerten Wunsch gewähren wollte, worauf der Räuber seinen Lohn empfing,
der Unschuldige freigelassen ward.
Zum Gedächtniß seiner Todesangst und Rettung, zur warnenden Mahnung aller Vorwitzigen, ließ er an der Straße nach dem Wienerberge
ein hölzernes Doppelkreuz errichten, welches nach seinem Tode im Volke "das Kreuz des Spinners", oder das "Spinnerkreuz" hieß und stehen blieb, bis ein neues
Ereigniß eine Veränderung desselben bewirkte.
(Eine ganz ähnliche eschichte geht von der Neustädter-Säule, und von vielen andern Denkmalen.)
II. Das Spinnerinkreuz.
Lange nach ihm lebte die schöne reiche Goldspinnerin Klara, die Vielbegehrte genannt. Diese
entbrannte in wilder Liebe zum Ritter Bertram von Merkenstein, obgleich er
bereits ein trautes Gemahl umfing, aus dessen Schoß ihm ein lieblicher Knabe erblüht war. So konnte Klara nimmer
hoffen, des Ritters Hand zu erhalten. Da gab höllische Bosheit ihr den Gedanken ein: des Merkensteiners Weib und Kind
zu morden, um sich den Weg nach seinem Ehebette zu bahnen. Weder eines zeitlichen noch ewigen Richters gedenkend, folgte Klara
ihrer weiblichen Gier, und vergiftete die Burgfrau und das Söhnlein derselben. Die That wurde ruchbar und Klara verhaftet.
Ihr Geld blendete die Richter; sie entging dem Rade und kaufte sich los. Zum Dank, daß der Himmel sie von der Schmach; "auf Kreuz gelegt zu werden" (so nannte
man dazumal das Radebrechen), errettet, errichtete sie an der Stelle des schlichten Kreuzes des Spinners ein kunstreich
geschnitztes auf der Höhe des Wienerberges, welches nun das Kreuz der Spinnerin oder Spinnerinkreuz
genannt wurde.
(Ziegelhauser, Leopold - Schattenbbilder der Vorzeit. Ein Kranz von Geschichten, Sagen, Legenden, Märchen, Skizzen und
Heldenmahlen. Aus allen Gegenden Deutschlands und des österreichischen Kaiserstaates. Zweiter Theil. Wien, 1844, S.74-76)