Eine Kaufbeurer "Staatsaffaire" vor 500 Jahren
oder
Wie anno 1482 Burger und E.E. Rathsfreunde der Reichsfreyen Statt Kauffbeyren von frevlen Bauern des Oberdorfer Pfleegambts
verprüglet und mißhandlet, auch solche Ybelthat durch fuersichtige, Ersame und wysw Herren und Herrschafften zu guetlichem End gebracht worden.
An der alten Straßensteige von Bertholdshofen nach Burk befindet sich auf halber Höhe ein Sühnekreuz mit einer Gedenktafel, die
folgende Inschrift trägt: "Sühnekreuz - an dieser Stelle wurde anno 1481 H. H. Pfarrer Joh. Iglinger von Stötten aus unbekannter Ursache erschlagen".
Das Mordopfer war der Sohn des Kaufbeurers Konrad Iglinger (Cunrat Yglinger), eines angesehenen Bürgers, der wiederholt als Zeuge bei
Beurkundungen und gerichtlichen Vorgängen beigezogen worden ist.
Als Tatmotiv hat sich einwandfrei Raub herausgestellt; ob der Totschlag Absicht war oder erst als Folge der Gegenwehr des Beraubten
erfolgt ist, geht aus den zeitgenössischen Berichten nicht hervor. Die Täter, die beiden Brüder Jörg (Georg) und Erhard Mayrendres von Burk, wurden
gefasst und vom Bischöfl. Pfleger in Oberdorf (Marktoberdorf) in Untersuchungshaft genommen. Doch auch der dritte Bruder, Konrad Mayrendres
aus Sulzschneid, wurde vom Vater des Erschlagenen, Konrad Iglinger, verdächtigt und angezeigt, so daß ihn schließlich der Kaufbeurer Stadtrat
festnehmen und ins Gefängnis sperren ließ, obwohl dafür keine ausreichenden Beweise seiner Mittäterschaft vorhanden waren.
Der Stadtchronist Wolfgang Ludwig Hörmann von und zu Gutenberg, dem zweifellos noch die originalen Gerichtsakten und Niederschriften
vorgelegen sind, berichtet in seiner Chronik von 1767 darüber folgendes:
"Als auch an S. Mariä Magdalenä Tag (22. Juli) ein Bischöflich Augsburgischer Unterthan, Nahmens Conrad Mayrenderes, auf Begehren Conrad Iglingers
eines hiesigen Burgers, dem sein Sohn Hh (Hochwürdiger Herr) Hans Iglinger erschlagen worden, wegen Verdacht der Beschuldigung, daß er an
solchem Todschlag schuld habe, allhie in gefängliche Verhaft gebracht wurde, so ordnete Bischof Johannes von Augsburg seine Räthe Herrn Mang, Marschall
zu Hohenrychen, Herrn Diepold von Stain zur Ronsberg, Pfleegern zu Füßen, baid Ritter, und Rieger von Westernach, Vogt zu Burgau anhero ab, welche auf
Mittwochen nach S. Jacobstag (30. Juli) allhier, eintrafen um des Gefangenen Loßlaßung, weil er in Sachen unschuldig seye, zu bewürken.
Ob nun wohl E. E. Rath (ehrwürdiger ehrsamer Rath) ihnen gernn hierinn willfahrt hätte, indem sie einigermaßen selbst den Beklagten
für unschuldig hielten, so mußten Sie jedoch denen Abgeordneten eine abschlägige Antwort ertheilen, alldieweilen (solange, weil) der Conrad
Iglinger sich darwieder gesetzt und ihme des Reichs Recht widerfahren zu lassen gebeten, beynebens (daneben, wobei) E. E. Rath ihrer
habenden Freyheit, Ehren und Eyds sich hierüber erinnert.
Nun hatte sich kurz vorher im Winter auch zugetragen, daß einige Beken (Bäcker) von hier mit Brod nach Füßen gefahren, und weil nirgends eine
Bahn (vom Schnee geräumter Weg) gewesen, so hatten sie solche ohngefähr über einen Aker gemacht, der nach Burk (Dorf
im Ostallgäu, heute Stadtteil von Markoberdorf) gehörte; wie sie zuruckgekommen, hatten die von Burk die Beken genöthet (genötigt) , daß
sie allda aus der bahn weichen, und in den tiefen ungebrochenen Schnee, wo sie beynahe Hab, Leib und Guth eingebüßet, fahren mußten; Solche Gewaltsame
und Unbilligkeit (Gewalttätigkeit und Unrecht) wurde von hier aus an den Vogt von Oberdorf klagend gebracht, welcher, da ihn seine untergebene
anderst berichtet hatten, auf einen Augenschein an dem Orth selbsten angetragen; Als nun bei demselben die von hier aus abgeordnete zwey Rathsfreunde gefunden,
daß den Beken zu viel geschehen, und sie es denen von Burk gütlich vorgehalten, hat sich einer von Burk sogleich mit frevlen Worten
herausgelaßen (sich in beleidigender Weise geäußert); Samer Boy Lychnam (Lohnkutscher) , wenn ihm einer der hiesigen mehr da
führe, müßte er ihm das Leben laßen, ist damit in seine Wehre gefallen (hat seine Waffe ergriffen), und hat die andere von Burk dahin vermocht, daß sie anfangen
des Raths Bottschaft und ihre Diener zu schlagen; auch als diese die Flucht ergriffen, die Sturm über sie gelitten (die Kirchenglocken geläutet, um die Dorfbewohner
zum Angriff zusammenzurufen), und mit nachschreyen: Fleisch Boßwicht (Schimpfname = "Galgenstrick"); auch die von Bertholdshofen
dazu vermocht, daß sie gleichfalls Sturm über Sie geschlagen, so daß sie unter solcher Angst und Schmach, biß an die hiesige Viehwayd und das
Haard (Wald) eilen müßen; Ob nun schon E. E. Rath sich gehörigen Orths (bei zuständiger Stelle) darüber beschwert, so wurde doch
deßen Anbringen nur verachtet, und denen von Burk mehr Glauben beygestellt (mehr Glauben geschenkt); Doch hatten des Bischofs von
Augsburg obbennahmßte (oben genannte) Räthe und Commission (Auftrag) E. E. Rath allhier zu eröffnen, daß der Bischof
auf ihre Klage ihnen hierinnfalls (in diesem Falle) Recht wiederfahren laßen wollte; als aber E. E. Rhath denen Bischöflichen Räthen antwortete: Sie
hätten bißhero niemand wider recht etwas erwiesen, und wenn sie solchen Mißhandel (Missetat) von denen von Burk länger nicht erleiden
könnten, so wollten sie solchergestalt (auf diese Weise) gegen ihnen handeln, wie sie es mit Recht, Fug und Glimpf (mit vollem Recht)
getrauten zu verantworten.
So nahmen die Räthe mit den Worten: Sie hätten eine andere Antwort verhofft, bey der Hand freundlichen Abschied.
Wie sehr auch dieses die Bischöfliche Abgeordnete verdroßen, gaben sie dadurch zu erkennen, daß sie die Ihnen von E. E. Rath
überschikte Verehrung von 8 Kannen Wein nicht angenommen, sondern den Knechten geantwortet: Die empfangene Antwort wollten sie behalten, aber
ihre Herren sollten den Wein auch beheben (behalten). Über welche Schmach E. E. Rath großen Verdruß und Mißfallen gehabt. Endlich
verfügte sich der Abbt von Kempten in eigener Persohn hieher und erbote sich solche Irrung gütlich zu beseitigen. Es wurde auch ein gütlicher Tag
(Zusammenkunft mit der Tendenz zu einem Vergleich) gen Mindelheim angesetzt, aber es war am Ende des Tages nichts ausgerichtet.
Zuletzt ließen die Bischöfl. Räthe gegen E. E. Raths von Augsburg Bothschaft, welche der hiesigen zu Mindelheim Beystand leistete, am
heimreuten (heimreiten) so viel verlauten, daß die von Augsburg sich des Vergleiches unterstunden (sich um einen Vergleich bemühen),
welcher dann, da der Iglinger gleichfalls auf einen gütlichen Tag erfordert wurde, zu Ehren hiesiger Stadt dahien zu Stande kam, daß
Sie nichts nach noch vorgeben durffte (die Stadt brauchte weder nachzugeben noch eine Vorleistung zu bringfen); und hierauf
wurde der Mayrenderes seiner Gefängnis gegen einer Urphede (Eid, das Friedgebot zu halten) entlassen".
Die Angehörigen des Ermordeten mußten sich also entscheiden, ob sie sich in ein Sühneverfahren mit den Tätern einlassen oder
das Gericht anrufen sollten. Hätten sie sich für letzteres entschieden, wären die Totschläger durch das Schwert ("von blutiger Hand") hingerichtet worden.
Da nun der Vater des Getöteten zu einem Vergleich bereit war, konnten sie dem Blutgericht entgehen, wenn sie die auferlegten Bußleistungen erfüllten:
1. Stiftung von Messen und Jahrtagen, öffentlicher Grabbesuch und Opferung von Wachskerzen,
2. Wallfdahrten nach Rom, Aachen und Maria Einsiedeln mit Beibringung entsprechender kirchlicher Bestätigungen - Einholung von Absolutionsbriefen
vom Papst bzw. Großpönitentiar in Rom, da die beiden Täter wegen eines Priestermordes auch der Exkommunikation verfallen waren,
3. Errichtung eines Steinkreuzes am tatort nach vorgeschriebenen Maßen,
4. Wergeld (Geldbuße, dessen Höhe sich nach Stand, nach Geschlecht und Umstand richtete) bzw. Schadenersatzzahlung von 101 Gulden an den
Vater des Erschlagenen,
5. Meidung aller öffentlicher Gebäude, Plätze und Ehehaften, das sind Gasthaus, Mühle, Schmiede und Badstube, damit kein Anlaß zu erneuten
Streitigkeiten entsteht, vor allem aber, um nicht der "Freundschaft" (Verwandtschaft) des Mordopfers begegnen zu können.
Am 5. Juni 1483 schließlich beendete Konrad Iglinger den außergerichtlichen Vergleich durch seine Bestätigung (s. Bild), daß Buße und Sühne voll
und ganz abgeleistet worden waren.
(Egelhofer, Ludwig - Kaufbeurer Geschichtsblätter Bd.11, 1987-89, S.148-153)
Das Sühnekreuz von Bertoldshofen
von Martin Dömling
Vergebens wartete an diesem Herbstabend der Kaufbeurer Bürger Konrad Iglinger auf seinen ältesten Sohn,
der seit einigen Jahren als Pfarrherr von Stötten am Auerberg seines Amtes waltete und meist am ersten Montag im Monat seinen Vater zu besuchen pflegte.
Am andern Tag drang furchtbare Kunde nach Kaufbeuren: Pfarrer Iglinger ist ermordet worden. In dem Wäldchen, das sich von Bertoldshofen nach Burk
hinaufzieht, geschah die grausige Tat. Ein großes Kreuz erinnert heute noch an das gemeine Verbrechen. Der Stein ist verwittert, von Moos und Flechten überzogen,
der linke Arm fehlt. Die Zeichen eines hohen Alters sind nicht zu verkennen. Auf dem Kreuz ist eine Holztafel aus neuerer Zeit angebracht; auf ihr lesen wir: Hier an
dieser Stelle zeigt das Steinkreuz, wo H.H. Pfarrer Iglinger von Stötten aus unbekannter Ursache erschlagen wurde. Die Inschrift erweckt fürs erste ein tiefes Gefühl
des Mitleids mit dem so jäh ums Leben gekommenen Pfarrer von Stötten. Der denkende Mensch begnügt sich indes nicht mit dieser natürlichen Gefühlsäußerung:
in ihm steigen Fragen auf, die Antwort heischen.
Wer war der Übeltäter? Aus welchen Beweggründen beging er die schreckliche Tat? Wie wurde das Verbrechen bestraft? Wir wären nicht
in der Lage, diese Fragen zu beantworten, wenn sich nicht im Pfarrarchiv zu Bertoldshofen vier Schriftstücke vorfänden, die Aufschluß geben. Die Täter waren die
Brüder Erhard und Jörg Mayrendres von Burk. Der Getötete war Johann Iglinger, Pfarrer in Stötten, Sohn des Kaufbeurer Bürgers Konrad Iglinger. Die Verbrecher
schlossen mit dem Vater des Getöteten, also mit Konrad Iglinger, einen Vergleich und verpflichteten sich zu folgenden Sühneleistungen:
1. Sie mußten in Kaufbeuren zum Seelenheile des Getöteten einen Trauergottesdienst halten lassen, nämlich am Vorabend eine Virgil, am Tage selbst ein
Seelenamt mit 40 Nebenmessen, dabei an der Bahre vier Wachskerzen aufstecken, jede ein Pfund schwer, und während dieser Messen andächtig für die
Seele des Verstorbenen beten, danach zu dessen Grab in Kaufbeuren gehen und sich auf dieses legen, dem Vater und den Verwandten zu diesem Gottesdienst
noch weitere 200 Wachskerzen geben.
2. Sie mußten für den Erschlagenen binnen Jahresfrist einen ewigen Jahrtag in Kaufbeuren stiften.
3. Sie mußten im kommenden Jahr nach Rom, Aachen und Einsiedeln wallfahren, zu jeder dieser Wallfahrten vom Pfarrer in Kaufbeuren Urlaub nehmen
und von jedem Orte über die Ausführung der Wallfahrt eine Urkunde heimbringen.
4. Sie mußten an dem Orte, an dem sie Hans Iglinger erschlagen hatten, ein Steinkreuz aufrichten lassen: 5 Schuh hoch, 3 Schuh breit,
1½ Schuh dick.
5. Sie mußten dem Vater als Schadenersatz 101 Gulden rhein. gemeiner Landeswährung in bar entrichten. |
Diesen Verpflichtungen kamen Erhart und Jörg Mayrendres pünktlich nach und Konrad Iglinger sprach sie daraufhin von aller Schuld
und Strafe frei.
Von unserer Strafgesetzgebung her gesehen, wundert man sich zunächst darüber, daß der Staat in dieses Verfahren überhaupt
nicht eingegriffen hat. Mord und Totschlag gelten in unserer Zeit als strafwürdige Verbrechen, die zu verfolgen Aufgabe der staatlichen Gerichte ist. Ein Strafantrag
des Geschädigten bzw. seiner Angehörigen ist nicht erforderlich. Grundsätzlich hat der Staatsauwalt alle strafbaren Handlungen von Amts wegen zu verfolgen.
Sache des Gerichtes ist es, von sich aus alles zu tun, um die Tat aufzuklären und die Wahrheit festzustellen.
Nicht so im Mittelalter. Nur der Mord wurde von Staats wegen verfolgt und allerdings grausam bestraft. Dem Verbrecher
wurden Arme und Beine oberhalb und unterhalb der Gelenke und Knie mit einem schweren Wagenrad abgestoßen. Dann wurde er lebend auf das Rad geflochten
und mit diesem auf einem Pfahle erhöht. In dieser grauenhaften Lage ließ man ihn schmachten, bis ihm der Tod nach Stunden, ja Tagen als Erlöser nahte.
Es war eine große Gnade, wenn man einen solchen Verbrecher vor dem Gliederabstoßen erdrosselte oder ihm vor der Erhöhung auf dem Rade den Brustkorb
einstieß.
Den Totschlag betrachtete man - im Gegensatz zum feigen Mord aus dem Hinterhalt - als ein "ehrliches Verbrechen", als eine
Auseinandersetzung zwischen zwei Männern unter gleichen Bedingungen, in welche die Staatsjustiz zunächst nicht eingriff, selbst wenn der Streit mit dem Tode
eines der Beteiligten endete. Es galt in jener Zeit das Sprichwort: Wo kein Kläger ist, da ist kein Richter. Erst wenn die Angehörigen des Getöteten Klage stellten,
nahm das Gericht die Verfolgung des Verbrechers auf. Der Totschläger wurde zum Tode durch das Schwert verurteilt.
Mochten aber die Angehörigen des Getöteten sich nicht an das Gericht wenden oder hielten sie sich für stark genug, sich selbst Sühne
zu verschaffen, so stand es ihnen frei, Fehde gegen den Beschädiger zu führen und ihn durch Waffengewalt zur Genugtuung zu zwingen.
Hier haben wir die Nachwirkung der altgermanischen Blutrache vor uns. In jener Zeit bildeten die Blutsverwandten eine heilig geachtete
Gemeinschaft, durch die sie zu gegenseitigem Schutz und zu gemeinsamer Rache für die Ermordung eines ihrer Mitglieder verpflichtet waren. Infolge dieser Pflicht
der Blutrache konnten ganze Familienfehden entbrennen; denn für den von der Sippe des Erschlagenen verfolgten Mörder hatten auch dessen Angehörige einzustehen.
Es war aber auch möglich, daß die Sippe des Ermordeten von der Sippe des Mörders eine Entschädigung, eine Buße entgegennahm, das sog. Wergeld
(d.h. Manngeld), dessen Höhe nach dem Stande des Getöteten zu bestimmen war.
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Das Sühnekreuz von Bertoldshofen |
Unter Karl dem Großen wurde das Gerichtswesen erneuert. Die Blutrache wurde mit allen Mitteln bekämpft. Immer wieder hat man
versucht, den Totschlag durch die Öffentlichen Gerichte bestrafen zu lassen. Man brachte aber nur eine Milderung zuwege. Die Hinterbliebenen eines Erschlagenen
konnten auf die Blutrache verzichten und von der Gegenpartei das Wergeld fordern. Der Kläger wählte sich angesehene Männer als Vermittler, welche einen
Sühnetermin ansetzten. Zur Verhandlung brachte früher der Kläger den Leichnam des Erschlagenen mit, später dessen abgeschlagene Hand. Anwesend waren
der Kläger und seine ganze Freundschaft sowie der Totschläger und seine Verwandtschaft, weil diese mithaftbar war. Ein geflohener Täter wurde geächtet. Seine
Freundschaft konnte aber die Bezahlung des Wergeldes übernehmen.
Auch in unserem Falle wurde ein Vertrag geschlossen. Als Kläger traten auf Konrad Iglinger, Bürger zu Kaufbeuren, als Vater des
Erschlagenen, sowie seine Verwandtschaft. Die Beklagten waren die Brüder Jörg und Erhard Mayrendres aus Burk und deren mithaftende Freundschaft. Diese
Verwandten der Täter hatten Bürgschaft zu leisten. Wenn eine der Sühneleistungen nicht erfüllt wurde, hatten sie die Haftung zu übernehmen. Am 28. August
1482 beurkundete Konrad Iglinger das Übereinkommen mit Jörg und Erhard Mayrendres.
Betrachten wir die Sühneleistungen im einzelnen!
1. Der Trauergottesdienst. Zum Heil der Seele des Verstorbenen ist nach vorausgegangener Vigil (am Vorabend) ein Seelenamt
mit 40 Nebenmessen zu lesen. Die Brüder Mayrendres mußten alle Verwandten und Bekannten ihrer eigenen Familie und der Familie Iglinger zum Gottesdienst
einladen. Außerdem hatten sie 40 Geistliche zu bestellen, weil ja in Kaufbeuren neben dem Requiem weitere 40 Messen gelesen werden mußten. An der Bahre
waren vier Wachskerzen aufzustecken, jede ein Pfund schwer; den Angehörigen der Familie Iglinger mußten sie noch weitere 200 Kerzen geben. Die Partei
Mayrendres trägt einpfündige Kerzen am Arm; zum Zeichen des geknickten Lebens waren diese Kerzen gebrochen. Die Täter müssen während des Gottesdienstes,
der wohl den ganzen Vormittag andauerte (40 Nebenmessen!), an der Bahre im Chor der Kirche stehen oder knien und zwar barfuß und bis auf den Gürtel entkleidet.
Während des Gottesdienstes sprach der Geistliche eine offene Beichte und Bitte für die Büßer. Dann folgte der Opfergang, wie er heute noch bei ländlichen
Beerdigungen üblich ist. Die Brüder Mayrendres traten zuerst vor, dann folgte ihre Verwandtschaft, dann kamen die Angehörigen der Familie Iglinger. Die Zahl der
Nebenmessen war nicht immer und überall dieselbe. Manchmal begnügte man sich mit 20; aus einem Sühnevertrag des Jahres 1517 ersehen wir daß 70
Nebenmessen verlangt wurden.
An den Gottesdienst schließt sich der Grabbesuch an. Der Kaufbeurer Pfarrer hat zuvor die Täter unterrichtet, was sie dabei zu tun haben.
Die Trauernden begeben sich in langem Zug zum Friedhof, allen voran die Täter; dann folgen Kreuz und Fahne, der Geistliche und die Ministranten und schließlich
die Familien Iglinger und Mayrendres. Die Täter müssen sich mit gekreuzten Armen auf das Grab des Verstorbenen legen und für ihn beten. Gewöhnlich mußten
auch am 7. und am 30. Tage Gottesdienste gehalten werden: der Siebent und der Dreißigat.
2. Die Täter waren ferner verpflichtet, binnen Jahresfrist einen "ewigen Jahrtag" in Kaufbeuren zu stiften, d.h. sie mußten eine
Stiftung errichten, aus deren Zinsen jedes Jahr auf "ewige Zeiten" ein Requiem gefeiert werden konnte.
3. Zu den beschwerlichsten Sühnemaßnahmen gehörten die drei Wallfahrten nach Rom, Aachen und Einsiedeln. Die Totschläger
mußten zu jeder dieser Wallfahrten vom Pfarer in Kaufbeuren Urlaub nehmen und von jedem Ort über die Ausführung der Wallfahrt eine Urkunde heimbringen.
In anderen Sühneverträgen werden als Wallfahrtsorte genannt Inchenhofen bei Aichach, Ettal, Padua, Santiago in Spanien, ja sogar Jerusalem.
4. Die beiden Verbrecher hatten dem Vater des Getöteten, dem Bürger Konrad Iglinger in Kaufbeuren, 101 Gulden rheinischer gemeiner
Landeswährung zu entrichten, also in hochwertigen Münzen aus reinem Metall. (Nach einer Berechnung von Dr. Dr. Weitnauer in Kempten hatten 101 Gulden im
Jahre 1963 den Wert von 12281 DM). Aus einem Sühnevertrag des Jahres 1383 erfahren wir, daß die Täter den zwei Töchtern des Erschlagenen Pfründen in einem
Kloster verschaffen und ihnen ein Leibgeding aussetzen mußten.
5. Die Täter waren schließlich verpflichtet, am Ort des grausigen Verbrechens ein Steinkreuz aufstellen zu lassen: 5 Schuh hoch, 3 Schuh
breit und 1½ Schuh dick. Unser Sühnekreuz ist demnach 1,50m hoch, 90cm breit und 45cm dick. Das Kreuz ist ebenso sehr Abschreckung und Mahnung wie
Aufforderung zum Gebet und Zeichen der Erinnerung. Den Transport an den Tatort hatte der Täter auf seine Kosten durchführen zu lassen. Er kam in manchen
Fällen sehr teuer. So mußte der Vogt von Eisenburg (bei Memmingen) im Jahre 1517 ein Kreuz aus Rorschacher Stein setzen lassen. Nur in wenigen Fällen
begnügte man sich mit einem Holzkreuz. Von reichen Leuten verlangte man oft die Errichtung von Bildsäulen oder kleinen Kapellen. Das Sühnekreuz steht in der
Regel an der Stelle, wo der Totschlag geschah; aber es ist nicht anzunehmen, daß der Getötete hier auch seine Ruhestätte gefunden habe. Die Verwandten
nahmen sich, wie in unserem Falle, selbstverständlich ihres "Freundes" auch im Tode an und erwirkten ein ehrliches Begräbnis. Das Vorkommen von Ausnahmen
sei nicht bestritten. Geschah der Totschlag in einem Wirtshaus, im Tanzhaus oder in der Kunkelstube, so mußte man einen geeigneten Ort für das Kreuz suchen.
Gewöhnlich wählte man das Elternhaus, den Eingang zum Friedhof oder die Dorflinde.
Da der Getötete in unserem Falle ein Priester war, so verfielen die Täter ohne weiteres der Exkommunikation, waren also aus der
Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen. Die Absolution erteilt der Papst oder jene römische Kurialbehörde, an deren Spitze der Großpönitentiar steht.
Im Pfarrhof zu Bertoldshofen haben sich darüber zwei Urkunden erbalten: Die Vollmacht zur Absolution von der Exkommunikation, ausgestellt von Julian, episcopus
Sabinensis, zugunsten des Erhard Mayrendres von Burk, datiert vom 22. Oktober 1481. Der Absolutionsbrief ist angehängt; die Vollmacht zur Absolution von der
Exkommunikation, ebenfalls von Bischof Julius ausgestellt, zugunsten des Jörg Mayrendres, datiert vom 7. November 1482. Auch hier ist der Absolutionsbrief
angehängt. Die öffentliche Absolution von der Exkommunikation geschah auf folgende Weise: Der Büßer kniet mit entblößten Schultern vor dem bevollmächtigten
Priester, welcher ihn mit der Rute oder mit Stricken leicht schlägt. Die Berührung mit der Rute erinnert an die Sklavenentlassungen im alten Rom.
Die beiden Totschläger waren nun wieder in die kirchliche Gemeinschaft aufgenommen. Am 5. Juni 1483 bestätigte ihnen zudem der
Vater des Getöteten, Konrad Iglinger, daß sie die geforderten Büß- und Sühneleistungen vollbracht hatten. Sie mußten nun Urfehde schwören, sie mußten also
eidlich bekräftigen, daß künftighin Frieden zwischen den beiden Parteien herrschen solle.
Mochte dieses Versprechen in ganz ehrlicher Gesinnung abgegeben worden sein: man weiß, wie es im Leben geht. Waren die Brüder
Mayrendres hitziger Natur, dann konnte selbst bei einer harmlosen Unterhaltung ein unbedachtes Wort den Streit aufs neue aufflammen lassen. Daher war den
Tätern der Zutritt zu den sog. Ehehaften untersagt; sie durften Wirtschaften und Mühlen, ferner die Schmiede und die Badstube nicht mehr betreten, also jene
Öffentlichen Gebäude, bei denen man leicht mit Vertretern der Gegenpartei zusammentreffen konnte.
Ein halbes Jahrhundert später wären die Brüder Mayrendres nicht mehr mit dem Leben davongekommen. 1532 trat die "Hals- oder
peinliche Gerichtsordnung" Kaiser Karls V. in Kraft. Durch sie wurde der Grundsatz aufgestellt, daß der Totschläger sich nur dem Staate zu verantworten habe
und nur von ihm bestraft werden könne. Totschläger worden von jetzt an enthauptet.
(Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben, 59./60.Band, 1969, S.321-329)