Deutschland Hessen Lkr. Marburg-Biedenkopf

Ebsdorf / OT von Ebsdorfergrund


Aufnahme um 1930
(Foto Marburg)

PLZ: 35085

GPS: N 50° 43,960', O 8° 48,788'

Standort: Im Innern der Kirche in einer Wandnische der Langhaussüdwand unter der Empore.

Größe / Material: 93:72:? / roter Sandstein

Geschichte: Die Darstellungen, insbesondere die Pfeilranken am Kreuzfuß, sind kaum noch erkennbar. Nach Auskunft des Ebsdorfer Pfarrers Gebhard wurde der Stein (mit weiteren jüngeren Grabsteinen) 1977 ins Innere der Kirche verbracht, leider offenbar etliche Jahre zu spät.

Sage:

Quellen und Literatur:
Meyer, Werner - Die Ebsdorfer Kreuzplatte, Rest einer Pfarrkirche um das Jahr 1000, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und landeskunde, Band 63, 1952, S.27-38
Recherche und aktuelles Foto von Volker Rumpf, Ebsdorfergrund



Die Ebsdorfer Kreuzplatte, Rest einer Pfarrkirche um das Jahr 1000
Von Werner Meyer - Barkhausen
Mit 5 Abbildungen nach Zeichnungen von Karl Rumpf

Abb.1

Abb.2

Abb.3

Abb.4

Abb.5

Abb.6

Abb.7

   Südlich von Marburg liegt im weiten Tal der Zwester Ohm das Dorf Ebsdorf, Hauptort des "Ebsdorfer Grundes" 1). Heute ein stattliches Bauerndorf mit großen Gehöften und gepflegten, schönen Fachwerkhäusern, hatte es schon im frühen Mittelalter Bedeutung durch einen Königshof, der in den Itineraren Heinrichs III. und Heinrichs IV. eine Rolle spielt 2). Zudem war Ebsdorf alter kirchlicher Mittelpunkt. Es gehörte zu den "Sedes", also den Sendgerichtssprengeln des Archidiakonats St. Stephan in Mainz 3). Danach muß hier schon früh eine Kirche bestanden haben. Als Taufkirche einer erschlossenen Hundertschaft muß diese nach Diefenbach sogar bis in die Anfänge der Christianisierung zurückgehen 4).
   Die bestehende Kirche, ein schlichter, einschiffiger Bau mit gotischem Chor und hohem Turm an der Südwestecke, bietet für eine über das 13. Jahrhundert hinausgehende Datierung nur wenig Anhaltspunkte. Nun hat sich jedoch an der Kirche ein offenbar älterer Rest erhalten in der ornamentierten Platte (Abb.1), die bisher an dem westlichen der spätromanischen Strebepfeiler der Nordseite eingemauert war. Es handelt sich um eine rechteckige, aufrechte Platte, 93x72cm, aus rotem Sandstein. Der Schmuck ist sehr einfach: Ein schlichtes, glattes Vortragekreuz auf kurzem Stiel mit annähernd gleichen Armen ist in flachem Relief dem Grund aufgelegt. Aus dem Stiel sprießen beiderseits Ranken mit je drei geschwungenen Zweigen, die Abb.1 in ein pfeilspitzenartiges Blatt auslaufen 5). In die Kreuzwinkel sind große Rosetten gesetzt, die sich als Ringe mit eigentümlicher Innengliederung darstellen: Bogenlinien bilden mit dem Innenkreis zwei bzw. drei längliche Augen. Im ganzen ist die Ausführung roh und kunstlos.
   Die technische Primitivität zusammen mit den Motiven des Vortragekreuzes und der Rosetten in den Kreuzwinkeln läßt die Platte höchst altertümlich erscheinen. Man hat an merowingische Entstehung gedacht. 6)
   Tatsächlich gibt es in der merowingischen Kunst beachtliche Parallelen. Die marmorne Grabplatte des Bischofs Boethius von Carpentras († 604), heute in Notre Dame de Vic bei Venasque (Vaucluse), hat bereits das Motiv des die Platte füllenden Kreuzes mit vier großen Rosetten (Sechssterne in einem Ring), wenn auch über den unteren Rosetten noch die an den Kreuzarmen hängenden Buchstaben Alpha und Omega eingefügt sind (Abb.2) 7). Ist hier der untere Kreuzarm verlängert, so zeigt eine ebenfalls südfranzösische Gürtelschnalle (westgotisch?) ein gleicharmiges Kreuz, dessen Winkel von großen Ringen mit Sechssternen völlig ausgefüllt sind (Abb.2). 8)
   Dem Boethiuskreuz verwandt ist auch eine Platte in Narbonne mit einem großen Vortragekreuz, das von zwei Männern, einem stehenden und einem sitzenden, gehalten wird. 9) Auch hier die großen Rosetten jedenfalls in den oberen Kreuzwinkeln. In die unteren mit Alpha und Omega ragen die Köpfe der Männer. Trotzdem hat der Künstler neben dem Kopfe des Sitzenden noch eine Rosette angebracht, bezeichnend für die zu Grunde liegende Vorstellung des Vierrosettenkreuzes.
   Auch auf den zahlreichen fränkischen Grabplatten des Bonner Museums (7.-8. Jhdt.) spielen Kreuz und Rosetten eine wesentliche Rolle (Abb.3). Meist sind sie in einfachster Ritztechnik ausgeführt und in der Anordnung oft unregelmäßig und flüchtig. 10) Bemerkenswert, daß sich unter den Rosetten auch Ringe mit einer durch Zirkelschlag von außen leicht zu erzielenden Aufteilung durch Randaugen finden, ähnlich wie in Ebsdorf, wenn auch viel roher und unregelmäßiger.
   In Köln sind bei den Grabungen Doppelfelds im Dom kürzlich drei Platten verschiedener Größe zum Vorschein gekommen mit großen, eingeritzten, die Fläche geometrisch aufteilenden Kreuzen. In die Viertel sind auch hier - jedenfalls bei einer Platte (Abb.3) - Rosetten in Gestalt von eingeritzten Kreisen mit einem Innenkreuz eingestellt. Die Kreuze sind gleicharmig mit breiten Voluten-endigungen der Arme. Volutenkreuze spielen in der sog. langobardischen Kunst des 9. Jhdts. eine große Rolle. So wird man auch die Kölner Platten frühestens dem 9. Jhdt., also der Zeit des Dombaues, zuweisen dürfen. Es handelt sich vermutlich um Platten, die zur Bezeichnung einer Grabstätte in den Fußboden der Kirche bzw. des Atriums eingelegt waren. Ähnliche Platten sehr kleinen Formats mit Volutenkreuzen und knopfartigen Rosetten, nun aber in kräftigem Relief herausgearbeitet, finden sich an der kleinen Stephanskirche in Köln-Kriel, 11) sowie an der alten Taufkirche von Refrath (Kr. Mülheim/Rhein) 12) an der Außenseite der Schiffswand über dem Portal eingemauert.
   Die Kölner Platten waren in einem späteren Anbau an die karolingische Westapsis des alten Domes vermauert. Ähnlich waren die Memoriensteine des Bonner Münsterkreuzgangs beim Bau der Krypta des 11. Jhdts. als "Mauerstücke zur Aufsetzung der Säulenbasen" verwendet, so daß man auch für diese zum mindesten auf das 10. Jhdt. kommt. 13) Sie zeigen eine ähnliche geometrische Aufteilung der gerahmten Fläche durch die gleichmäßig breiten, auch eingeritzten Kreuzarme (nur bei einer der Platten Relief). Aber hier ist es das lateinische Kreuz statt des griechischen in Köln. Außerdem tragen die Kreuzarme Namen und Todestag der Verstorbenen. Statt der Kreisrosetten sind bei zweien der Platten Viertelrosetten in die Ecken gesetzt, bei der dritten, der größten, sind oben die Bilder von Sonne und Mond - wie in den karolingischen Kreuzigungsdarstellungen - eingefügt, während beiderseits des Kreuzfußes zwei kleine Palmetten stehen, die sehr an langobardische Kreuzplatten des 9. Jhdts. erinnern.
   Aus dem bisher vorgelegten Material ergibt sich, daß die Tradition der Platte mit dem Vierrosettenkreuz tatsächlich bis weit in die merowingische Zeit zurückreicht, daß sie aber auch noch im neunten, vielleicht auch im zehnten Jahrhundert lebendig ist. Nur eins von den Motiven der Ebsdorfer Platte fand sich auf keinem der herangezogenen Beispiele, die aus dem Stiel des Kreuzes hervorkommende Ranke.
   Nun spielt das Kreuz mit Rosetten noch in einem anderen Kunstkreis des frühen Mittelalters eine bedeutende Rolle, in dem byzantinisch-langobardischen. Schon in der frühen byzantinischen Kunst gibt es einfache quadratische Platten mit schlichtem Reliefkreuz und großen, die Kreuzviertel ausfüllenden Rosetten, die unserer Ebsdorfer Platte erstaunlich verwandt erscheinen (Athen, Brussa). 14) Es soll hier nicht die Frage angeschnitten werden, ob wir es bei den fränkischen Platten nicht schon mit Auswirkungen dieser Kunst zu tun haben. Die byzantinischen Platten haben bei aller Einfachheit nichts Primitives, sie sind meisterhaft durchgearbeitet und von klassischer Ausgewogenheit der Verhältnisse. Es handelt sich hier auch nicht um Grabplatten wie ausschließlich bei den merowingischen und karolingischen Stücken, sondern um Schrankenplatten, um Verkleidungsplatten für Taufbrunnen, Ziborien, also um Stücke der Innenarchitektur. Aus der byzantinischen Kunst ist die langobardische hervorgegangen 15) mit ihrem Flechtwerkornament, das alle Ausstattungsstücke der Kirche bedeckt. Auch hier ist das Kreuz zwischen Rosetten ein Hauptmotiv, oft unter Arkaden und seit dem 9. Jahrhundert meist in der Form des Volutenkreuzes. 16)
   Daneben hat die byzantinische Kunst, die im 9. und 10. Jahrhundert eine großartige Renaissance erlebt, die alten Motive weiterentwickelt. Eins der bedeutendsten Werke der byzantinischen Kunst des 10. Jahrhunderts ist die große Staurothek im Limburger Domschatz: ein kastenartiges Reliquiar, in dem Partikel des hl. Kreuzes aufbewahrt wurden. 17) Beruht die hohe künstlerische Bedeutung des Werkes auf der reichen Goldschmiedearbeit, auf der farbigen Schönheit der zahlreichen Figuren in Zellenemail auf Gold, so kommt es uns hier auf die Silberplatte der Rückseite (Abb.4) an mit ihrem großen getriebenen und geritzten Kreuz, das auf einem vierstufigen Sockel (einem Thron?) steht und von dessen Fuß sich beiderseits Palmettenranken aufwärts in die unteren Kreuzviertel schwingen. 18) Oben erscheinen in den Kreuzvierteln die bekannten Sternrosetten, wenn auch verhältnismäßig klein. Das Motiv der aus dem Kreuzfuß hervorkommenden Ranken in Ebsdorf hat also hier jedenfalls eine Parallele.
   Aber welche Beziehung könnte zwischen der kunstvollen byzantinischen Goldschmiedearbeit und der schlichten Steinplatte in Ebsdorf mit ihrem so primitiv ausgeführten Ornament bestehen?
   Das byzantinische Werk ist laut Inschrift eine Stiftung des Kaisers Konstantin VII. Porphyrogenitus und seines Sohnes und Mitkaisers Romanos II. sowie des mächtigen Reichskanzlers Basilius. Als solche ist es mit Sicherheit in die Zeit zwischen 948 und 959 zu datieren. 19) Man wird nicht fehlgehen, wenn man ihm und anderen am Hofe z.T. unter Mitwirkung des kunstfreudigen Kaisers Konstantin selbst entstandenen Werken einen offiziellen Charakter zuschreibt, der es in seinen Motiven weithin vorbildlich und maßgeblich gemacht hat. So findet sich im Baptisterium von San Marco in Venedig eine zierliche Steinplatte, auf der das Kreuz der Staurothek mit den charakteristischen schwertgriffartigen Enden unmittelbar in Stein übertragen erscheint (Abb.5). 20) Auch die beiden oberen Rosettensterne, der vierstufige Sockel (hier zwischen zwei Tauben), die Ranken am Kreuzfuß sind da, die letzteren nur in einer veränderten, mehr steinmäßigen Form: auf jeder Seite zwei sich durchschlingende kräftige Rankenäste, die mit wenigen großen Pfeilblättern besetzt sind und in kleinere Pfeilblätter ausklingen. Das weist insofern schon auf die sehr viel primitiveren Ebsdorfer Ranken, als diese ebenfalls in - wenn auch einfacheren - Pfeilspitzenblättern endigen.
   Es besteht also Grund zur Vermutung, daß die Ranken des Ebsdorfer Kreuzes von einem byzantinischen Kreuztyp angeregt worden sind, wie er sich mit gestuftem Sockel und beiderseitigen Ranken auf der Rückseite der Limburger Staurothek sowie in der Kreuzplatte von San Marco darstellt.
   Für den Weg, auf dem das byzantinische Rankenmotiv nach Ebsdorf gekommen ist, ergeben sich Anhaltspunkte dadurch, daß sich dem Ebsdorfer Stein nächstverwandte Stücke in Mainz feststellen ließen. Vor dem Kriege befanden sich in der Steinhalle des Mainzer Museums mehrere frühmittelalterliche Grabplatten bzw. Sargdeckel, deren genauere Herkunft nicht bekannt war (Abb.6). Einer von ihnen zeigt innerhalb einer Umrahmung zwei Felder, ein kleines unteres, quadratisches, das durch sich kreuzende Schrägbalken gleichsam vergittert ist, und ein langgestrecktes oberes, das in flachem Relief an langem Stiel ein dem Ebsdorfer, sehr entsprechendes griechisches Kreuz mit großen Kreisrosetten in den Vierteln zeigt. Zwar sind die Kreisrosetten (Viersterne) im Relief herausgearbeitet, nicht eingeritzt bzw. eingekerbt wie in Ebsdorf. Dafür findet sich aber auf dem Bruchstück einer weiteren Platte eine mit der Ebsdorfer Form so genau übereinstimmende Rosette - auch in den im Dreieck angeordneten Kerbaugen -, daß an einem engeren Zusammenhang nicht gezweifelt werden kann.
   Nur die Ranke fehlt in Mainz. Dafür steht hier das Kreuz auf einem Stufensockel - die drei Leisten sind kaum anders zu deuten - und auf einer anscheinend den Erdkreis symbolisierenden gestreckten Halbkreisscheibe. Wenn wir nun hören, daß im Baptisterium von San Marco neben jener Kreuzplatte mit Stufensockel und Ranken eine weitere sehr große Platte ein Kreuz zeigt, das auf Stufensockel und Erdkreisscheibe steht, 21) und wenn wir berücksichtigen, daß an der Ebsdorfer Platte unten ein Stück fehlt, wo vielleicht ein Stufensockel zu ergänzen ist, so schließt sich der Ring. In der durch die Platten repräsentierten Mainzer Steinkunst treten also Motive auf, die als Auswirkungen des um die Mitte des 10. Jhdts. am byzantinischen Hofe geltenden Kreuztyps angesehen werden müssen. Eine Erklärung dafür bietet die Geschichte. Es ist bekannt, daß durch die Heirat Ottos II. mit der byzantinischen Prinzessin Theophanu 970 sich byzantinische Einflüsse im deutschen Kunstschaffen des ausgehenden 10. Jhdts. besonders geltend machten. Offenbar hat die energische Kaiserin die ihr vertraute Formenwelt nicht missen wollen. Mit einer gesteigerten Einfuhr byzantinischer Reliquiare und Bücher, die den deutschen Künstlern als Vorbild gedient haben, ist jedenfalls zu rechnen. 22)
   Nun stand der damalige Mainzer Erzbischof Willigis (975-1011) mit dem ottonischen Königshause in engster Verbindung. Er war der erste Berater der Kaiserin, als sie nach Ottos II. Tode für ihren unmündigen Sohn die Regentschaft führte. Gleichzeitig entfaltete Willigis eine glänzende Bautätigkeit. Er ist als Erbauer des Ottonischen Mainzer Domes, des "Willigis-Domes" bekannt. Daneben hat er zwischen 975 und 995 das Kollegiatstift St. Stephan begründet und dessen Kirche, die Vorgängerin der gotischen, erbaut. Wir wissen nicht viel von dem Dombau, gar nichts von der alten Stephanskirche. Aber liegt es nicht sehr nahe, in Willigis den Vermittler jener byzantinischen Elemente in der Mainzer Kunst zu sehen, die sich auch nach Ebsdorf auswirkten?
   Jedenfalls hat eine Datierung der Mainzer Platten, also auch der Kreuzplatte in Ebsdorf, in die Zeit des Willigis, etwa um 1000, am meisten Wahrscheinlichkeit für sich.
   Ob der künstkrischen Abhängigkeit schon in dieser Zeit eine reale Beziehung der Ebsdorfer Pfarrkirche zu Mainz entsprochen hat, wissen wir nicht. Den Übergang der Pfarrkirche in den Besitz des Mainzer Stephansstiftes setzt Diefenbach erst in die Zeit zwischen 1066 und 1210. 23) Der Mainzer künstlerische Einfluß könnte sich aber auch auf anderem Wege in Ebsdorf geltend gemacht haben.
   Was nun den Zweck der Ebsdorfer Kreuzplatte betrifft, so ist wohl in erster Linie an eine Grabplatte zu denken in Fortsetzung der Tradition, die wir im Rheingebiet aufzeigen konnten. Überhaupt handelt es sich ja auch künstlerisch nicht um Übernahme eines ganz neuen Typs, sondern nur um Bereicherung der traditionellen Form durch byzantinische Motive. Vielleicht war die Platte an der Giebelwand der heutigen Kirche eingemauert, von wo sie bei der Veränderung dieser Wand 1743 an den unmittelbar benachbarten Strebepfeiler versetzt sein könnte. 24)
   Die Platte setzt also eine Pfarrkirche in Ebsdorf schon um das Jahr 1000 voraus. Wie verhält sich dazu die gegenwärtige Kirche? Wie weit kommen wir mit ihr zurück nach Abdeckung der verschiedenen im Laufe der Jahrhunderte erfolgten Erneuerungen, Veränderungen, An- und Umbauten?
   Abgesehen von der jüngsten Wiederherstellung nach dem ersten Weltkriege (Anbau der Sakristei, Versetzung des gotischen Chorportales ins Innere) hat eine wesentliche Veränderung des mittelalterlichen Bestandes im Jahre 1743 stattgefunden (vgl. Aufsatz von Karl Rumpf). Rekonstruieren wir den Zustand vor der Erhöhung der Mauern, der Beseitigung des Westgiebels und dem Ausbruch der Gewölbe, wie sie die Erneuerung von 1743 mit sich brachte, so bleibt ein verhältnismäßig niedriges, kreuzgewölbtes romanisches Schiff von zwei Jochen, überhöht von dem spätgotischen Chor (Vgl. Abb.7). Dieser wurde vermutlich gleichzeitig mit dem heutigen Abschluß des Südwestturmes 1489 (Datum der Marienglocke) angebaut. Ob der ihm vorangegangene romanische Chor halbrunden oder geraden Abschluß hatte, wissen wir nicht. Der Turm schloß vor Anlage des heutigen Glockengeschosses und Turmhelms mit einer Wehrplattform ab, deren Brüstung, etwa um die Hälfte niedriger als die heutige Glockengeschoßwand, an jeder Seite zwei regelmäßige Zinneneinschnitte aufwies und deren Boden mit Platten bedeckt war. 25) Zu der Wehrplattform gehört - wie bei allen Wehrtürmen mit Plattform - das das Innere des Turmes abschließende, hier kupplig steigende Gewölbe mit Rippen, deren schwere Form - geschärfter Wulst auf breiter Bandunterlage - eindeutig in das erste Drittel des 13. Jhdts. weist. Gleichzeitig mit dem Turmgewölbe sind anscheinend auch das romanische Südportal des Schiffes mit den das schlichte Gewände umlaufenden drei Blättchenreihen (vgl. Südportal des Domes von Osnabrück), sowie der Rest des gegenüberliegenden Nordportals mit der charakteristischen, in eine geschwungene Spitze auslaufenden Wellenschnittabfasung des Gewändes. Aber auch das kreuzgewölbte Kirchenschiff - Parallelen in Michelbach b. Marburg und in der Marburger Kilianskirche - gehört fraglos in diese Zeit, so daß der Eindruck einer einheitlichen spätromanischen Gesamtanlage entstehen könnte, wenn nicht am Turm eindeutige Spuren für einen der Wehranlage vorhergehenden Zustand zu erkennen wären. Der Turm ist nachträglich erhöht worden und anscheinend aus einem ursprünglichen Glockenturm zum Wehrturm umgebaut worden. Die Turmseiten schlössen - nach Rumpfs Beobachtung - ursprünglich mit Giebeln ab, deren Spitzen wenig über den heutigen kleinen, rundbogigen Fensteröffnungen lagern Diese sind als Abschluß von schießschartenartigen, sich nach außen verengenden Schächten offenbar erst mit dem Wehrgeschoß entstanden (vgl. Wehrgeschoß des Turmes in Hesken), als die großen darunter befindlichen Rundbogenfenster mit geradem Gewände und Stufung an der Außenseite (Schallöffnungen?) vermauert wurden. Das an der Ostseite befindliche Fenster ist nachträglich wieder geöffnet worden unter Vermauerung des kleinen Fensters darüber.
   Für die Datierung des älteren Turmzustandes fehlt jeglicher Anhaltspunkt. Vielleicht hat der Turm nur kurz bestanden, als sich der Umbau zum Wehrturm als notwendig erwies. Dann würden sich Schiff und Portale auch noch durchaus mit dem älteren Zustand des Turmes zusammenbringen lassen.
   Nur, wenn sich der ursprüngliche Turm als wesentlich älter erweisen sollte, würde man auch auf einen älteren Zustand des Schiffes schließen müssen, von dem dann jedenfalls Teile der an den Turm anschließenden Süd- und Westwand im heutigen Baubestande erhalten sein müßten. Denn von den drei Möglichkeiten des Verhältnisses von Turm und Schiff - Turm früher, später oder gleichzeitig - scheidet die erstere aus, da die Tunnwand ohne selbständige Quaderung an die mit eigener Quaderung leicht vorspringende Schiffswand anschließt. Der Turm muß also gleichzeitig mit dem Schiff entstanden oder aber ihm nachträglich angefügt sein. Für das letztere könnte die ungewöhnliche Stellung des Turmes und vor allem die schwer zu erklärende vorspringende Quaderecke des Schiffes geltend gemacht werden, ohne daß man allein daraus die Gleichzeitigkeit von Turm und Schiff bestreiten könnte, für die sehr wesentliche Argumente sprechen.
   Jedenfalls erscheinen die Aussichten, in dem heutigen Bestände von Kirche und Turm noch etwas von der alten Kirche zu entdecken, zu der die Kreuzplatte gehört, sehr gering. Klarheit könnten nur Grabungen bringen, die hier verhältnismäßig leicht durchzuführen wären, und die um so wünschenswerter sind, als von ihnen vielleicht auch Aufschluß über den salischen Königshof in Ebsdorf erwartet werden darf.

1) Die Bezeichnung "Ebsdorfer Grund" ist seit 1374 nachweisbar. Vgl. Diefenbach: Der Kreis Marburg (1943) 24.
2) Vgl. C. Wenck: Deutsche Kaiser und Könige in Hessen, ZHG 40 (1907) 148. Femer Diefenbach a.a.O. 54. Diefenbachs Vermutung, daß der salische Königshof auf einem "Steinhaus" genannten Hügel zwischen Dorf und Bahnhof zu suchen sei (ebda, und "Königshöfe im Umlande der Amöneburg", HL SO (1939) 160f.), ist.durch kürzliche Grabungen nicht bestätigt worden. So tritt die andere von D. angeführte Möglichkeit, daß innerhalb des heutigen Dorfes die Pfalz nur im Bereich des befestigten Kirchhofs gesucht werden könne, in den Vordergrund.
3) Vgl. Classen: Die kirchliche Organisation Althessens im Mittelalter (1929) 99ff.
4) Vgl. Diefenbach: Königshöfe 160, Anm. 42 und Kreis Marburg 23ff.
5) Da die nach unten gehenden Zweige durch die untere Plattenkante abgeschnitten sind, ist damit zu rechnen, daß ein Stück der Platte fehlt (Freundl. Mitt. von K. Rumpf).
6) Dehio-Gall: Hdb. d. dt. Kunstdenkm. 3, 169.
7) Jean Hubert: L'art preroman (1938) 146 u. Tf. 33h.
8) Ebda. 147, Fig. 148.
9) DeLasteyrie: L'architecture religieuse a Tepoqne romane, S. 202, Fig.183.
10) Lehner: Das Prov.-Museum in Bonn 2: Die röm. u. fränk. Skulpturen (1917) Tf. XXXV-XXXVIII.
11) Kunstdenkm. Stadt Köln 2, III, S.256.
12) Kunstdenkm. Rheinprov. V. 2, S.134 - J. Kreutz: Die karoling. Taufkirche in Refrath. "Romerike Berge" (Zt. f. Heimatpflege i. Berg. Land) I (1950) 56ff.
13) Kunstdenkm. Rheinprov. V, 3. S.106.
14) Wulff: Altchristi, u. byzantin. Kunst II. 5O6. - R. Kautzsch: Die röm. Schmuckkunst in Stein vom 6.-10. Jhdt. Röm. Jb. f. Kunstgesch. 2 (1939) 64, Abb.97.
15) Über das Verhältnis der langobardischen zur byzantinischen Kunst vgl. Kautzsch, a.a. O., S.68.
16) Vgl. z.B. den inneren Zwickelschmuck des Ziboriums in San Apollinare in Classe in Ravenna (806-816): C. Ricci: Roman. Bauk. in Italien, S.66. Weitere Beispiele bei Cattaneo: L'architettura in Italia dal secolo VI al mille circa (1891) und bei Schaffran: Die Kunst der Langobarden in Italien (1941).
17) Aus'm Werth: Das Siegerkreuz des Kaisers Konstantin VII. Porphyrogennetos (Bonn 1866). - A. Boeckler: Zur Restaurierung der Staurothek von Limburg. Kunstchronik 1951, 208ff., Abb.1-8.
18) Boeckler, a.a.O. Abb.6.
19) Boeckler, a.a.O. 213f.
20) Vgl. Cattaneo, a.a.O. Frz. Ausgabe 271
21) Ebda. Abbildung war mir nicht zugänglich.
22) Vgl. O. Wulff, a.a.O. 365.
23) Vgl. Diefenbach, Kreis Marburg 81.
24) Leider befindet sich die Platte, die noch vor zwanzig Jahren verhältnismäßig gut erhalten war, heute in einem sehr schlechten Zustande. Große Teile des Ornaments sind abgesprengt, von der Ranke ist kaum noch etwas zu sehen, auch das Kreuz und die Rosetten sind stark beschädigt: eine Folge unsachgemäßer Reinigung, durch welche die schützende Patina von Moos, Flechten usw. entfernt wurde. Frost und Nässe konnten so den Stein angreifen und die Zerstörungen hervorrufen.
25) Die Erhöhung der Brüstungswände sowie die Vermauerung je eines Zinneneinschnitts auf jeder Seite ist im äußeren Mauerwerk deutlich sichtbar. Zu beachten sind die Reste von Wasserspeiern an den Turmecken unterhalb der Wehrplattform.



ANHANG
Zur Baugeschichte der Ebsdorfer Kirche
Von Karl Rumpf

   Im Archiv der Pfarrei Ebsdorf befindet sich ein dünnes Heft mit dem Titel: "Akten über den Bau der Kirche in Ebsdorf Anno 1743 seq." Diesen Akten liegt ein Gutachten nebst Zeichnung des Maurermeisters Christian Schoen zu Marburg bei, die uns erschöpfende Auskunft über den Zustand der Ebsdorfer Kirche am Ende des 17. Jahrhunderts geben. Da die Zeichnung stark vergilbt, die Striche verblaßt, außerdem Teile des Papiers zerschlissen sind und fehlen, konnte sie nur als Anhalt für unsere Zeichnung (Abb.7) dienen. Das Gutachten lautet:

Auf Befehl des Herrn Schultheiß Müllers zu Ebsdorff habe ich endes unterschriebener die Kirche zu Ebsdorff in augenschein genommen und selbige nach genauer Besichtigung sehr baufällig befunden, worüber ein Abriss und Überschlag zu machen erfordert worden.
1.) Müssten die zwey Creutzgewölbe nebst denen Chorbogen heraus gebrochen werden.
2.) Muß die Kirche dem Chor gleich, weilen noch eine Männerbühn oder Bohrlaube über die ander wie im Abriss zu ersehen gemacht werden soll Von 13 Schuch hoch, 60 Schuch lang und 3 Schuch dick. Idem auf der ändern seiten ebenfallß 13 Schuch hoch, so dann 60 Schuch lang und 3 Schuch dick auf gemauert werden.
3.) An der giebel seite mußen 30 Schuch lang, auch 13 Schuch hoch und 3 Schuch dick auf gemauert werden.
4.) drei neue thüren von gehauen Stein, wie im Abriß zu ersehen, zu machen, auf jede thür ein Oberlicht 12 Schuch hoch und 4 Schuch breit im lichten.
5.) Vier große Fenster jedes 18 Schuch hoch und 4 Schuch breit von gehauenen Stein zu machen.
6.) In und vor jeder Thür 2 Tritt so wohl als auch ein Tritt vor den Altar von 6 Schuch lang und 3 Schuch breit von gehauenen stein zu machen.
7.) 154 laufende Schuch hauptgesims, wie im Abriß zu ersehen, herum zu hauen und von gehauenen stein zu machen.
8.) die alten Fenster und Thüren zumauern auch wieder neue Löcher durch die Mauer, wo die neue Thüren und Fenster eingesetzt werden, zu brechen und die Giebelmauer soweit als nötig abzubrechen.
9.) Mußen unter die Männer Bühn Treppe unter jede ein Tritt gemacht, auch die alte Treppe die auswendig an der Kirch zwischen denen zwey Pfeiler hinaufgehet abgebrochen werden. Hierzu die stein zu brechen und die vorgemelte Mauer- und Steinhauerarbeit zu verfertigen um rund vor 300 Thaler
An Kalck wird erfordert vor 60 Thaler

Extrahirt Marburg
den 25ten Novembris 1739

Christian Schoen
Mauer und Steinhauer Mstr. Daselbsten
Auf der Zeichnung befindet sich noch die Bemerkung:

A=A ist das Chor darin stehen ietzo die Stühler welche aber können bey der Orgel liegen. Dieses Stück Kürche ist vor dießen ausgebauet worden und ist soviel höher gebauet als das alte. Wann man nun wollte hir Frauen bänke machen, als im grundriß zu sehen ist, so können noch 70 Personen zu stehen kommen, aber dahingegen tut nötig, daß das alte stück dem würde egal gebauet werden wie im Außzug zu sehen. Damit die Bohrlauben können übereinander gesetztet werden in dem doch das Tach auf dem niedrichen Stück Kürche ganz verfaulet ist und doch ein neuer Tachstuhl darauf muß und die zwey Creutzgewölbe können herausgenommen werden...".

   Aus Zeichnung und Gutachten sehen wir, daß 1739 das romanische Schiff noch von zwei rundbogigen Kreuzgewölben überdeckt und daß das Dach des hochragenden spätgotischen Chores mit einem zierlichen Dachreiter bekrönt war. Schoen schlägt vor, die Kreuzgewölbe auszubrechen und die Schiffsmauern um 13 Schuh, auf gleiche Höhe wie den Chor, zu erhöhen, um eine weitere Empore - er nennt sie "Bohrlaube" - für die Männer, über die schon vorhandene, anordnen zu können. Die alten Fenster und Türen sollen zugemauert und neue je 12 Schuh hoch und 4 Schuh breit eingebrochen und - dem klassizistischen Stil der Zeit entsprechend mit Hausteinumrahmung - eingebaut werden. 1743 kam der Umbau nach dem Vorschlag von Schoen zur Ausführung. Der Kircheninnenraum wurde nun eine hohe, helle Halle von 27m Länge, 7m Breite und über 8m Höhe. Aus den Akkorden mit Zimmermeister und Steindecker ersehen wir, daß man den Bau in ganzer Länge mit einem neuen Dachstuhl versah. Dabei verschwand leider der Dachreiter über dem Chor. Die Kirche bekam damals das Aussehen, das wir aus dem Beginn unseres Jahrhunderts, also vor dem Umbau 1919, noch kennen.
(Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und landeskunde, Band 63, 1952, S.27-38)


Sühnekreuze & Mordsteine