Die Spinnerin am Creuz. - A-1010 Wien
2. Variante
1. Variante
Mündlich, in Oestreich.
Dicht bei Wien, wenn man die Vorstadt Landstraße hinausgeht, stehet ein steinernes, gut gearbeitetes
Heiligenbild, unbedenklich über zwei Jahrhunderte alt. Davon geht die Sage: Eine arme Frau habe zu Gottes Ehren dieses Heilthum
wollen aufrichten lassen und also so lang gesponnen, bis sie für ihren Verdienst nach und nach das zum Bau nöthige Geld
zusammengebracht.
(Grimm, Brüder [Jacob und Wilhelm] - Deutsche Sagen. [1. Band], Berlin 1816, S.260)
Dicht bei Wien, wenn er die Vorstadt Landstraße hinter sich hat, erblickt der Wanderer auf dem Rücken des Wienerberges ein
steinernes Denkmal von ziemlich hohem Alter und schöner, künstlicher Arbeit. Es ist eine verzierte gotische Kreuzsäule, die von
allem Volke die "Spinnerin am Kreuz" genannt wird. Mancher fromme Pilger verrichtete dort und verrichtet noch an dem Gnadenbilde
seine Andacht, sei es, daß er dem reizenden Wien Valet und Lebewohl für lange Zeit sagte, sei es, daß er, heimkehrend, mit höher
klopfender Brust die mächtige und geliebte Heimatstadt in ihrer ganzen Schöne entfaltet vor Augen liegen sieht.
Vorzeiten stand an dieser Stelle nur ein einfaches Holzkreuz, dem Verfall nahe; nun wohnte in geringer Ferne davon eine
arme, aber fromme Frau, welche täglich bei dem Kreuze betete; diese nahm sich's sehr zu Herzen, daß dem Kreuz der Einsturz
drohte, und beschloß, zu Ehren Gottes das Kreuz zu erhalten oder ein neues aufrichten zu lassen. Die fromme Frau setzte sich
nun Tag für Tag mit ihrer Spindel an das Kreuz und spann und spann, sprach auch die des Weges Ziehenden um eine Gabe an
für das Kreuz, die aber meist gar gering ausfiel. Und was sie erbat und erspann, das legte sie, sich zur Fristung ihres eigenen
Lebens nur auf das Allernotwendigste beschränkend, alles zurück. Die Reisenden allzumal wurden des Anblicks der Armen so
gewohnt, daß sie von ihnen nur die Spinnerin am Kreuz genannt wurde. Allmählich mehrte sich das zurückgelegte Geld, das die
Spinnerin in treue Hände niederlegte, so daß das gegenwärtige Denkmal fast ausschließlich vom Fleiß ihrer Hände erbaut werden
konnte. Freudig sah sie das Steinkreuz sich erhöhen mit seinen Figuren und Zieratem und als es nun vollendet war, da spann sie
nicht mehr, betete aber um so brünstiger dort, und entschlummerte für das ewige Leben zu des Kreuzes Füßen.
Zum Gedächtnis dieser Frommen nennt man nun noch das Denkmal nach ihr: Die Spinnerin am Kreuz.
(Bechstein, Ludwig - Volkssagen, Mährchen und Legenden des Kaiserstaates Österreich, 1840)