Flurnamen in Bezug zu Sühnekreuzen und Totengedenkmalen


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Am Kinderkreuz
Ein alter Flurname westlich von Witzenhausen

von Herbert Reyer

Am Kinderkreuz. Ausschnitt aus einer Federzeichnung von 1572, StA Marburg P II 9730.

   Für ein größeres Gelände links der Werra im Westen der Stadt Witzenhausen, nahe der Landstraße nach Ermschwerd und unweit des "Hohen Ufers" hat sich bis heute ein Flurname erhalten, dessen Alter wir nicht kennen und dessen Bedeutung bislang unbekannt geblieben ist: "Am Kinderkreuz" (die amtliche Schreibweise lautet noch immer "Am Kinderkreutz"). Die Bezeichnung läßt sich anhand der greifbaren urkundlichen Überlieferung bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Die früheste Erwähnung dieses Flurnamens verdanken wir einer Urkunde vom 22. Februar 1490: Berit Hußerthune, Bürger zu Witzenhausen, und seine Frau Else bekunden darin eine Zinsverschreibung an das Wilhelmitenkloster u.a. aus ihrem Acker "bie der kinder cruce"1). Im Jahre 1511 findet sich erneut - ebenfalls wieder in einer Urkunde aus dem Klosterarchiv der Witzenhäuser Wilhelmiten - ein Hinweis auf den Flurnamen bei der "kinder cruce"2). Eine dritte Nennung in einer Klosterurkunde - aufgeführt sind im Rahmen einer Zinsverschreibung an die Wilhelmiten u.a. 1½ Acker bei "der kynder krutze" - stammt aus dem Jahre 1519.3)

   Eine weitere Erwähnung ("Kinderkreutz vor Witzenhausen") enthält das Witzenhäuser Salbuch von 15754) und seit 1570 taucht der Flurname recht zahlreich bei den im Stadtbuch niedergelegten Liegenschaftsübertragungen auf. Der letzte Eintrag im Stadtbuch, der die Flur am Kinderkreuz nennt, datiert vom Januar 1598.5)
   Es liegt nahe, bei der Deutung des Namens an ein früher in diesem Bereich befindliches Flurdenkmal, an ein Steinkreuz oder einen Kreuzstein zu denken. Belege für die Bestätigung dieser Annahme aber fehlten bislang. Es ist indes kein Einzelfall, daß allein noch ein Flurname an die vormalige Existenz eines solchen Denkmals erinnert. In Hessen gibt es eine ganze Anzahl solcher Beispiele.6) Das Studium der archivischen Überlieferung, seien es nun historische Karten oder Urkunden und Akten, kann in vielen Fällen weiterhelfen und zu neuen Erkenntnissen führen. Eindrucksvoll hat dies Joachim Jünemann vor einiger Zeit in zwei Aufsätzen für das südliche Niedersachsen vorführen können. Aufgrund einer akribischen "Akten- und Urkundenlese" konnte er Nachrichten über eine Vielzahl unbekannt gebliebener ehemaliger Kleindenkmale zutage fördern.7)

   Zu unserem Problem "Kinderkreuz" sind es zwei schon in anderem Zusammenhang herangezogene8) Karten des ausgehenden 16. Jahrhunderts, die uns Gewißheit über die Herkunft des Flurnamens geben können. Die beiden Prozeßkarten von 1572 bilden jeweils die engere Umgebung von Witzenhausen und Bischhausen ab. In beiden Karten ist links der Werra in dem uns interessierenden Bereich ein markanter aufrechtstehender Steinquader mit der Bezeichnung "Kindercreutze" bzw. "Kinderkreutz" eingezeichnet, zweifellos ein Kreuzstein, der nach der (kolorierten!) Karte auf einer Seite ein nur sehr schwach erkennbares eingemeißeltes Kreuz zeigt. Unmittelbar westlich schließt sich der Schweineanger der Stadt an; am rechten Rand des Bildausschnitts sieht man noch die Einmündung des Wilhelmshäuser Bachs in die Werra. Inmitten der Werra befindet sich eine Insel, der "Braunswerder", dahinter ein quer zum Strom gestelltes Fischwehr. Ein "großer Stein" hindert die Durchfahrt des linken Werraarms.

   Die auf der zweiten Karte, einer einfachen Handzeichnung, erkennbare offenbar nach Westen gewandte Seite des Kreuzsteines weist als bildliche Darstellung drei kleine menschliche Gestalten auf, wahrscheinlich die für den Stein namensgebenden Kinder. In der oberen Hälfte des Kartenausschnitts ist noch ein Teil des Witzenhäuser Stadtbildes mit der Werrabrücke zu sehen.
   Es ist nunmehr zwar gesichert, daß die heutige Flurbezeichnung "Am Kinderkreuz" auf einen ehemals dort vorhandenen Kreuzstein zurückgeht. Offen bleibt aber, seit wann es diesen Stein gegeben hat. Auf jeden Fall entstammt er dem Mittelalter, somit einer Zeit, in der besonders häufig solche Steine errichtet wurden. Vielfach haben sie sich als Rechtsdenkmale erwiesen, etwa als "Sühnekreuze" für begangene Verbrechen usw. Der Anlaß für die Setzung des Kinderkreuzes bleibt aber ebenso im dunkeln wie die Zeit seines Verlustes. Die Steinkreuzforschung konnte immerhin nachweisen, daß besonders viele Kreuze während des Dreißigjährigen Krieges zerstört wurden, doch ergibt sich daraus für uns nicht mehr als eine vage Vermutung.9)
   Kreuzsteine nach dem Muster unseres Kinderkreuzes, d.h. mit bildlichen Darstellungen versehene Objekte, gehören zu den ausgesprochen seltenen Exemplaren in der Masse der verschiedenartig gestalteten Flurdenkmale. In dem umfänglichen topographischen Handbuch Riebelings, das mehrere hundert Steinkreuze und Kreuzsteine in Hessen nachweist und erläutert, konnten lediglich 12 aufgenommen werden, die mit Abbildungen im Kreuzungsfeld versehen sind. Als ein solches Beispiel ist hier aus unserer näheren Umgebung der in Ermschwerd am Dorfplatz stehende Scheibenkreuzstein anzuführen, der heute im allgemeinen als "Gerichtsstein" bezeichnet wird. Die bildliche Darstellung ist im Vergleich zu dem, was einst das Kinderkreuz aufzuweisen hatte, eher bescheiden: Rechts unter dem Scheibenkreuz ist lediglich eine primitiv eingeritzte kleine menschliche Figur erkennbar.10)
   Im Umkreis von Witzenhausen konnte Riebeling im übrigen nur noch einen weiteren Kreuzstein in Ermschwerd am Fuß des Burgberges, den sog. Bußstein, außerdem einen Scheibenkreuzstein und ein Steinkreuz in Ziegenhagen sowie ein verstümmeltes Steinkreuz unterhalb des Ludwigsteins nahe der Kriegsgräberstätte und schließlich einen Scheibenkreuzstein am südlichen Ortsausgang von Eichenberg in seinem Handbuch verzeichnen.11) Erwähnt sei abschließend noch die vielleicht schon im 14. Jahrhundert entstandene Scheibenkreuzplatte, die im südlichen Seitenschiff der Stadtkirche in Witzenhausen aufgestellt ist.10)

Anmerkungen:
1. Die Klöster der Landschaft an der Werra. Regesten und Urkunden, bearb. v. A.Huyskens, 1916, Nr.1596.
2. ebd., Nr. 1634 (1511 Juni 16).
3. ebd., Nr. 1655 (1519 Juni 21).
4. Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Witzenhausen, Hg. v. K. A. Eckhardt, 1954, Nr. 114, S.182.
5. Wizzenhusana I, tract. W. und K. A. Eckhardt, 1975, Nr.59, 293, 363, 388, 614, 718, 807.
6. Vgl. dazu allgemein H. Riebeling, Steinkreuze und Kreuzsteine in Hessen, 1977.
7. J. Jünemann, Kreuzdenkmale im südlichen Niedersachsen im Spiegel archivalischer Forschung, in: Niedersachsen. Zeitschrift für Heimat und Kultur 78, 1978, S.215-218; 84, 1984, S.206-208.
8. H. Reyer, Die ältesten Abbildungen der Stadt Witzenhausen (WTV-Schriften, Heft 15), 1986: Karten des Staatsarchivs Marburg, P II 9775 und P II 9730 (s. Abb.).
9. Vgl. Riebeling, S.15f.
10. Vgl. allgemein dazu Riebeling; insbes. ebd., S.77f.
11. ebd., S.78f.
12. F.K. Azzola, Die Scheibenkreuzplatte in der Stadtkirche zu Witzenhausen, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 9, 1970, S.99-102.


(Das Werraland, 39.Jg., 1987, Heft 1, S.6-7)

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