Rechtsbräuche


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Über Rechtsbräuche und Rechtssprache
um die Wende des 16. und 17. Jahrhunderts in Obersachsen

Von Geheimer Rat Dr. Ernst Just, Dresden

   Überall in deutschen Landen geht man wieder den Rechtsbräuchen und der Rechtssprache unserer Vorfahren nach. Eine reiche Quelle für die Forschung in unserem engeren Heimatlande bilden hierbei die Gerichtsbücher der alten kursächsischen oder herzoglich sächsischen Ämter, die Stadtgerichtsbücher und die Bücher der Petrimonialgerichte. Diese Bücher, meist stattliche Lederbände, sind vor etlichen Jahren von den Amtsgerichten an das Hauptstaatsarchiv zu Dresden abgegeben worden. Sie bestehen, soweit es sich um die Gerichtshandelsbücher, Kaufbücher, Consensbücher und dergleichen handelt, in einfachen Abschriften der Urkunden nach ihrer zeitlichen Folge. Die Urkunden selbst wurden entweder den Beteiltgten in der Urschrift überlassen oder in den Archiven der Ämter, Städte oder Rittergüter aufbewahrt und sind meist verloren gegangen. Sie wurden von den Amtsschössern, Stadtrichtern oder Gerichtshaltern in Protokollform aufgenommen oder diesen Amtspersonen von den Beteiligten schriftlich übergeben. Im zweiten Falle war häufig der Ortspfarrer der Verfasser. Zu den wichtigeren Rechtshandlungen zogen die Beteiligten Zeugen aus ihrer Verwandtschaft oder Freundschaft zu, die Zeugen wurden in der Urkunde mit ihrem Namen und meist auch mit ihrem Wohnorte aufgeführt. Waren Frauen an dem Rechtsgeschäfte beteiltgt, so handelte für sie ihr Ehegatte in "ehemännlicher Vormundschaft" oder ein Verwandter oder Freund als "bestellter und verordneter kriegischer Vormund". Unter einem "kriegischen" Vormund ist ein curator in litem zu verstehen, d.h. ein Vormund, der der Frau für einen bestimmten Streitfall oder für ein Rechtsgeschäft bestellt wurde, aus dem möglichenfalls ein Streit entstehen könnte. Neben dem Ehemann oder dem kriegischen Vormund war die Frau meist selbst zugegen und wurde in der Urkunde mit ihrem Vornamen, sehr selten auch mit dem Familiennamen benannt, den sie vor ihrer Verheiratung geführt hatte.
   Den Hauptinhalt der Gerichtsbücher bilden Erbkäufe (Käufe von Bauerngütern, Häusern, Gärten usw.), Pachtverträge, Testamente, Erbteilungen, Verzichte, d.h. Quittungen über empfangene Kaufgelder oder Erbteile, Entlastung von Vormündern und Ähnliches.
   Beim Suchen nach älteren Vorfahren habe ich einen großen Teil der Gerichtsbücher des Amtes Leisnig von der Wende des 16. und 17. Jahrhunderts durchlesen müssen. Je länger ich las, desto mehr wurde ich gefesselt, desto deutlicher trat mir das Leben unserer Altvorderen vor das geistige Auge. Die Sprache der Urkunden ist kernig und bildkräftig, sie ist noch die Sprache der Lutherbibel. Man lieft von "Gütlein" und "Öchslein", wenn jemand eine Geldsumme geerbt hat, so ist sie ihm "angestorben", wenn jemand stirbt, so "geht er mit Tode ab"; eine kranke Tochter ist "ein gebrechlich Mägdelein, so mit der schweren Not beladen". Die altertümliche Rechtschreibung und die manchmal schnörkelhafte Handschrift bereiten dem Verständnis nur anfänglich einige Schwierigkeiten. Der Buchstabe "f" wird oft durch "v", der Buchstabe "v" oft durch "u" erfetzt, z.B. "beule" statt "Befehl", die Mitlauter (Konsonanten) werden häufig doppelt geschrieben, das Dehnungs-"h" steht in der Regel vor, nicht nach dem Selbstlauter (z.B. "jhar" statt "Jahr", die Hauptwörter beginnen oft mit kleinen Buchstaben (Minuskeln), während umgekehrt andere Wörter mit großen Buchstaben (Majuskeln) mitten im Satze beginnen. Die obersächsische Mundart schimmert in der Schreibweise mancher Wörter durch, so liest man z.B. "bahr" statt Paar, "Pothe" statt Bote, "Pauerngut" statt Bauergut. Die Sätze sind manchmal überlang, trotzdem fällt der Verfasser nur selten, wie man zu sagen pflegt, aus der Konstruktion.
   Das Mittelalter und die Reformationszeit wirken noch in dem religiösen Zuge nach, der die trockensten Geschäfte durchweht. Rührend ist die Fürsorge der Eltern für ihre Kinder, der Vormünder für ihre Pflegebefohlenen. Uralte Begriffe wie "Dingstuhl" (Thingstätte), "Gerade" (Gebrauchsgut der Frau), "Heergeräte", richtiger "Heergewäte"*) (Gebrauchsgut des Mannes), leben noch im Volksbewußtsein. Da auf dem Lande die Kenntnis des Lesens und Schreibens noch nicht allgemein war, spielt das "Kerbholz" eine bedeutende Rolle. Wer regelmäßig wiederkehrende Zahlungen, z.B. "Erbegelder" aus einem Hause zu fordern hatte, holte sie sich an den festgesetzten Tagen (Michaelis, Fastnachten, Walpurgis usw.) im Gute des Käufers ab, dort wurde bei der Zahlung eine Kerbe in das vom Gläubiger mitgebrachte Kerbholz geschnitten. Bei der letzten Zahlung wurde dem Schuldner das Kerbholz ausgehändigt. So erklärt sich auch die ständige Redewendung, daß jemand etwas "im Gute" des N.N. zu fordern habe, es ist damit nichts anderes als eine Forderung an den Bauern gemeint, die im Gute zu holen war.
   Sehr merkwürdig ist die Bezeichnung "Vorstand" für eine Urkunde, durch die jemand ermächtigt wird, den Nachlaß eines verschollenen Verwandten gegen Sicherstellung der Ansprüche des etwa Zurückkehrenden oder eines sich meldenden Näherberechtigten an sich zu nehmen, wobei der Schösser sich gegen die eigene Verantwortlichkeit durch die Zusätze "treulich sonder Gefährde"**) und "dem Amte, mir und den Meinen allewege unschädlich" zu verwahren sucht.
   Vom Eherecht abgesehen, macht sich das Eindringen des römischen Rechts kaum bemerkbar. Wenn eine Ehefrau eine fremde Verpflichtung übernimmt, so geschieht es "mit Verzeihung (Verzicht) aller ihrer weiblichen Gerechtigkeit, sonderlich aber des Senatus consulti Velleiani", über dessen Inhalt die Frau, der natürlich ein Senatus consultum fremder war als ein böhmisches Dorf, vom Richter "zur Notdurft" unterrichtet wird. Sonst ist von Begriffen und Ausdrücken des römischen Rechts kaum die Rede.
   So erbt beim Tode der Mutter nach altem Sachsenrecht die Tochter, "das Mägdlein", die "Gerade". Die Bestandteile der Gerade werden meist einzeln aufgeführt. Es befinden sich darunter z.B. "5 Ellen mittlere Leinwand, 2 lange Maulschleier (!), 5 Stirntücher, 9 Paar Ärmel, 1 Schürze, 1 Hemd, 3 alte böse Tücher, dafür der Vater ein gutes geben will".
   Ein sorglicher Vater bestimmt, daß nach seinem Tode der älteste Sohn das Gut allein erben solle, weil er ihm "in seiner Haushaltung treulich beigestanden und kindliche Handreichung getan", während der jüngere Sohn sich "aller Tätlichkeit und Unfugs wider ihn" schuldig gemacht habe und überdies "blöden Gemüts" fei, so daß er ihm das Gut nicht anvertrauen könne. Den Entschluß zu seiner letztwilligen Verfügung begründet er damit, daß er "nunmehr seine Zeit gelebet und Alters auch des zustehenden Hustens wegen sich nichts anderen denn eines seligen Sterbestündleins, welches ihm die heilige Dreifaltigkeit gnädiglich verleihen und geben wolle, zu versehen habe".
   Aber nicht bloß Testamente zeigen den religiösen Geist des Zeitalters, sondern auch gewöhnliche Verträge. Ein solcher schließt mit den Worten "Gott gebe den beiden Teilen dazu Gnad und Segen". In den Gerichtsbüchern des Städtchens Hertha beginnen bis über den Dreißigfährigen Krieg hinaus alle Kaufverträge mit den Worten. "Im Namen der heiligen und hochgelobten Dreifaltigkeit". und wenn die Erben sich auseinandersetzen, so beginnt das Protokoll etwa mit den Worten. "Demnach unser lieber Gott nach seinem väterlichen Willen und Wohlgefallen Michel N.N.'s Eheweib durch den zeitlichen Tod abgefordert".
   Hinterläßt ein Bauer außer seiner Witwe unmündige Kinder, so wird ihr öfters von den Vormündern der Kinder auf Zeit oder für immer das väterliche Gut überlassen, wogegen die Mutter sich verpflichtet, "die Kinder in Gottesfurcht zu erziehen" und sie, nachdem sie "zu Ehren gereift sind", auszustatten, z.B. mit "1 Scheffel gut Korn, 1 Viertel Bier, 1 Gebett Betten, oder dafür 2 neue Schock Groschen, und 1 Kuh". Auch soll jedes Kind, "so es zu Weihnachten vom Dienste" - bei einem anderen Bauern - "ziehen würde, im Gute 14 Tage lang Kost und Herberge haben, würde es aber sonst Leibesbeschwerung halber heimkommen, so soll es gleichfalls bis zu seiner Gesundheit mit Kost und Herberge versehen werden".
   Nach dem Tode einer Bäuerin bestimmt der Bauer: "Wenn er nach Gottes Willen mit Tode abginge, ehe ein Kind 12 Jahre seines Alters erreicht hätte und die Stiefmutter es nicht billig Pflegte, sollen ihm lährlich 4 neue Schock zum Ziehgelde gereicht werden".
   Wird das Gut nach dem Tode des Vaters einem erwachsenen Sohne überlassen, so hat dieser gewöhnlich der Mutter im Gute "die Zeit ihres Lebens freie Herberge" zu gewähren, sie "an seinem Tische zu haben und zu ernähren" und "so sie lagerhastig werden möchte, ihr auf seine Unkosten eine eigene Wärterin zu halten". "Wenn aber", so wird vorsichtig hinzugefügt, "Mutter und Sohn sich miteinander nicht vertragen und sie sich von seinem Tische absondern möchte, so soll der Sohn ihr nachverzeichnete Alimenta zu überreichen schuldig sein". Ein solches Verzeichnis enthält in der Regel die Jahresmengen an Brot, Käse und Milch, die Ernte gewisser Obstbäume, die Benutzung einiger Gartenbeete, bestimmte Mengen Butter zum Kuchenbacken für Festtage, die Aussaat eines Viertels Lein, "wohin der Sohn ihn sät", und "wozu die Mutter den Samen gibt".
   Über die Bestandteile der "Gerade" vergleichen sich zuweilen Mutter und Sohn, sie fügen etwa hinzu. "Und soll nach der Mutter seligem Absterben kein Zank erfolgen, und soll der Sohn der Mutter Freundschaft mehr nicht zu geben schuldig sein, als der Mutter Kleider, ausgenommen den besten Mantel".
   In einem anderen Falle sorgen Mutter und Kinder bei der Erbteilung und dem Verkauf des väterlichen Gutes an einen Sohn für die kranke Tochter wie folgt. "Dem gebrechlichen Mägdlein hat die Mutter von ihrem Teil (ihrem Erb- und Kaufpreisanteil) sechs neue Schock zuvor genommen, und ist das gebrechliche Mägdlein damit versorget worden. Hierneben hat sich der Käufer verwilligt, seine gebrechliche Schwester weil (solange) sie lebt, im Gütlein zu behalten, und sie mit Essen, Trinken und anderer Notdurft zu versorgen. Dagegen er ihr Teil zu sich nehmen und ohne Zins gebrauchen mag, welches auch nach ihrem Tode, wenn derselbe nicht in zwei Jahren geschieht, gänzlich und vollständig an ihn kommen und fallen soll".
   Beim Kaufe eines Gutes wird auch darauf gesehen, daß der Käufer nicht zu viel auf einmal aus dem Gute zu entrichten hat. Das Kaufgeld, die "Hauptsumme", wird meist in ein sofort oder binnen kurzer Zeit zu erlegendes "Angeld" und in Teilzahlungen, "Erbegelder", zerlegt, die auf eine Reihe von Jahren verteilt werden. Auch nicht zu viel Vieh darf dem Gute auf einmal entzogen werden. Wenn Töchter des verstorbenen Bauern ihr Gut dem Stiefvater verkaufen, heißt es einmal: Es foll auch gegeben werden "jeder eiue Kuh, der ältesten ihre auf Martini 1614, der jüngsten ihre auf Martini 1615. Behält aber der Besitzer des Guts dieselben im Stalle, soll er von jeder zwölf Groschen jährlich zu Zinse entrichten".
   Beim Verkaufe des Gutes an einen nicht zur Verwandtschaft gehörenden Erwerber wird "zur mehreren Bekräftigung" des Vertragsabschlusses oft ein "Leikauf", richtiger "Litkauf"***), vereinbart, den jeder in Höhe von etwa 12 Groschen zu zahlen hat; dieses Geld wird zu einem gemeinschaftlichen Trunke verwendet, an dem die Zeugen teilnehmen.
   Genug der Beispiele! Sie zeigen hinlänglich, welche Fundgrube die Gerichtsbücher für die Erforschung des Lebens unserer Vorfahren darstellen. Mögen sie manchen Volksgenossen anregen, sich liebe- und verständnisvoll in sie zu vertiefen und aus ihnen für die Gegenwart zu lernen. Auch hier gilt das der Arbeit des Heimatschutzes vorleuchtende Dichterwort. "Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!"

*) Jakob Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, 1854, S.568 flg.
**) Wo ich wörtlich anführe, verwende ich der leichteren Lesbarkeit wegen in der Regel die heutige Rechtschreibung
***) Jakob Grimm, a.a.O. S.191

(Landesverein sächsischer Heimatschutz, Mitteilungen Heft 1-4, Band XXV, 1936, S.57-61)

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