Rechtsbräuche |
"Das Recht wende das Unrecht ab!" Dieser uralte germanische Rechtsgrundsatz, der sinnbildlichen Ausdruck im
Rautenkranze des Wappens der sächsisch-thüringischen Fürsten gefunden hat, ist erklärlicherweise praktisch nicht
immer und nicht zu allen Zeiten zur Anwendung gekommen. Herkommen, Brauch und Gewohnheit, Aberglaube, Anbildung und rohe Sitten, alles das hat zu
verschiedenen Zeiten einen bestimmenden Einfluß ausgeübt auf die Art der Handhabung des Rechts auch in Thüringen. Es gab sogar Zeiten, da die Anmaßung,
die Willkür und die rohe Gewalt an Stelle des Rechts traten und in der Rechtlosigkeit Platz ergriff. Dahin gehört die
Periode, in der der Ketzermeister Konradus die Scheiterhaufen der Inquisition in Thüringen flammen ließ und der Zeitabschnitt, in dem die thüringischen, von
ihren Peinigern geschundenen Bauern Burgen und Schlösser brachen, und endlich die schreckliche Zeit, da das Recht des Stärkeren, das Faustrecht,
Geltung hatte. Dieses Recht der Selbsthilfe, das sich gerade in Thüringen am ausgeprägtesten gestaltete und welches
sich da am längsten gehalten hat, war auf altersgraue germanische Rechtsanschauungen gegründet: Handlungen welche den Charakter einer Vergewaltigung
trugen, wie z.B. Raub, Totschlag usw., waren der Privatrache des Vergewaltigten und seiner Sippe dem Täter gegenüber preisgegeben.
In Nachstehendem sollen nun die Rechtsverhältnisse und Gerichtsordnungen, wie sie speziell im 12. und 13. Jahrhundert in Thüringen
bestanden, gekennzeichnet werden. In diesen Jahrhunderten war Thüringen der Inbegriff von cirka 14 Grafschaften, einigen 20 Herrschaften und 30 ansehnlichen
Klöstern. Die meisten Dörfer hatten ihre eigenen Herren. Daraus geht zunächst hervor, daß der oberste Herr im Lande,
der Landgraf, im Verhältnis zur Größe des Landes nur einen kleinen Teil desselben als Eigentum besaß. Er war als
Landesherr sozusagen auch weiter nichts als ein Gutsbesitzer, wie die anderen Herren, die Besitzer der zahlreichen
Herrschaften, Klöster und Dörfer hatten nichts oder doch nur sehr wenig von den Erträgnissen ihrer Güter an den Landgrafen abzugeben; sie waren nur verbunden,
seinem Aufgebote zu folgen. Er war der Oberfeldherr der übrigen Herren
und er besaß die Rechte eines Oberrichters. Als Oberrichter war er der Vorsteher des Landgerichts,
d.i. des obersten thüringischen Gerichtshofes. Daneben bestanden noch als "Untergerichte" 4 Dingstühle; außerdem
gab es auch eine Vogtgerechtigkeit, Stadtrichter und Schultheißen.
Das Landgericht, dessen Richterstelle also der Landgraf selbst verwaltete, war ja vereinzelt
an verschiedenen Orten abgehalten worden, z.B. 1120 in Bottelstedt (Buttelstedt); unter Ludwig III. in Gotha
und in Siebenleben. Aber der Hauptsitz des obersten Gerichts war das weimarische Dorf Mittelhausen,
welches zum Amte Großenrudstett gehörte. Der Platz der Gerichtshandlung war das sog. Ried,
nach welchem das Dorf Riednordhausen benannt ist. Es bleibt auffällig, warum zum Sitze des höchsten Gerichts ein Dorf
und nicht eine der hervorragenden Städte gewählt wurde, deren es damals doch viele gab: Erfurt, Nordhausen, Mühlhausen, Langensalza, Gotha, Weimar, Eisenach, Arnstadt u.a.
Der Landgraf hielt dreimal im Jahre Gericht ab. Das erstemal nach dem 1. Sonntage nach Weihnachten, das zweitemal nach dem 1. Sonntage nach Pfingsten und das
drittemal den 18. Sonntag nach der Dreifaltigkeit (Trinitatis), also im Oktober. Eine Anzahl Grafen, gewöhnlich 12, bildeten die Beisitzer oder Schöppen des Gerichtshofes.
Die Gerichtsbühne war auf beiden Seiten und hinten mit Brettern eingefaßt, die vordere, nach Osten gerichtet Seite war offen und
nur durch eine Art Schlagbaum verwahrt und bewacht gegen vordrängende stürmische Parteien. Die Umfassung mußte so niedrig sein, daß man Richter und Beisitzern
bis auf die Schultern sehen konnte. Die Aufbauung der Bühne mußte der Besitzer der in der Flur Erleben gelegenen Hufen
besorgen, und die Teppiche und Kissen auf denen Richter und Schöppen saßen, hatte das Peterskloster zu Erfurt zu liefern. Dafür wurde ihm der Ort Mittelhausen eingeräumt,
der später mit dem Dorfe Riednordhausen zusammen eine kleine Grafschaft bildete, deren Einkünfte dem Landgerichte zugewiesen wurden. Der Landgraf nahm nebst
den Schöppen den erhabensten Sitz der Bühne ein; 6 Schöppen saßen zur Rechten, 6 zur Linken des Richters. Dieser hielt in der Hand einen weißen Stab; vor ihm saß
der Herold, der ein angesehener und unbescholtener Mann sein mußte. Derselbe hatte beim Antritte seines Amtes u.a. zu schwören, die empfangenen Aufträge und
Verordnungen früh nach Sonnenaufgang und kurz vor ihrem Untergange in Erfüllung zu bringen und niemand des Nachts oder des Mittags zu beunruhigen.
Die Dingstühle
Darunter waren zu verstehen die Orte, an denen ein Ding (Thing), d.i. eine Volksversammlung, abgehalten wurde, die ein Dinggraf oder ein Dingvogt
leitete. Dinghofsleute, d.h. Beisitzer, konnten oder durften nur Inhaber von Erbgütern und sonstige freie leute sein.
Der Sitz des ersten Dingstuhls war in Gotha, der zweite in Thomasbrücken, der dritte in Weißensee, der vierte in Bottelstedt (Buttelstedt). Jeder
Dingstuhl umfaßte die umliegenden Grafschaften und Synodalbezirke. Zu Gotha gehörte z.B. die Grafschaft Gleichen und der Synodalbezirk Ohrdruf. Zu Bottelstedt die
Grafschaft Käfernburg und der Synodalbezirk Erfurt u.s.f. Wer in dem einen dieser Dingstühle "gebannt" war, galt auch als Gebannter in den übrigen Dingstellen. Unter
Bannspruch war ein rechtskräftig erfolgtes Ver- oder Gebot für eine Person zu verstehen oder ein gerichtliches Urteil anderer Art. Jeder dieser Dingstühle hatte seinen
besonderen Vogt oder Rechtsbeistand. Das Wort Vogt (ahd. fokat, mhd. voget, lat. vocatus) ist dem heutigen Advokat oder Rechtsanwalt
entsprechend.
Die Vogtgerechtigkeit,
die z.B. jedes Kloster besaß, war ursprünglich ein Lehensrecht, das öfter vom Lehensträger wieder an andere verkauft wurde. Daraus dürfte hervorgehen, daß diese
"Gerechtigkeit" einträglich gewesen sein muß und daß da wohl nicht immer wirkliche Gerechtigkeit geübt worden sein mag. So überließ z.B. Landgraf Hermann I. diese
Vogtgerechtigkeit über das Dorf Knatterfeld, die er von dem Stifte zu Fulda zu Lehn trug, dem Grafen Berthoch v. Wangenheim. Dieser trat sie wieder an Hartmann und
Ortwin v. Günthersleben ab. Aber das Stift, das bei diesem Handel seine Rechnung nicht gefunden zu haben scheint, löste sie für 15 Schillinge wieder ab (Thuringia Sacra).
Die Vogtgerechtigkeit über das Kloster zu Heusdorf besaßen z.B. die Schenken von Apolda; diese überließen aber dem Kloster ihr Recht für die Summe von 80 Mark. -
Daß bei solchen Handelsgeschäften der Eigennutz in der Verwaltung eine Rolle gespielt haben mag, war schon deswegen denkbar, weil in der Zeit meistens nur nach
ungeschriebenen Gesetzen Recht gesprochen werden konnte.
Rechtsgrundsätze und Gerichtsstrafen.
Die im Mittelalter in Thüringen gehandhabten "ungeschriebenen" Gesetze wurden erst in der Mitte des 13. Jahrhunderts unter dem Namen
Sachsenspiegel zu einer zusammenfassenden Aufzeichnung des geltenden Rechts gestaltet. Bis dahin mußte sich ein Angeschuldigter auf die Urteile z.B. der
Schöppenstühle verlassen, die, wie schon eingangs erwähnt, auf Herkommen, Brauch und Sitten gegründet waren. Bei den Schöppen selbst sowie auch bei den
Richtern waren da wohl nicht gerade große Rechtskenntnisse zu suchen.
Hier urteilte meist schlichter oder "gesunder" Menschenverstand, soweit dieser nicht durch Aberglaube, Anbildung, überhaupt durch den Geist
der Zeit ungünstig beeinflußt wurde. Im allgemeinen galt der altgermanische Rechtsgrundsatz, daß jedermann nur von seinesgleichen gerichtet werden könne, daher auch
die Art der Zusammensetzung der Schöppenstühle. Bei Einleitung des Gerichtsverfahrens mußte ein Kläger da sein. Leugnete der Beklagte, so wurde ihm der Eid
zugeschoben, und 6 Eideshelfer mußten imstande sein, den Freispruch zu unterstützen. Ein Rechtloser oder "Unehrlicher" durfte nicht schwören, sondern mußte
sich einem Gottesurteile unterwerfen. Die Ordalien oder Gottesurteile, deren das Mittelalter sieben kannte, kamen aber nicht bloß Rechtlosen gegenüber in Anwendung.
Ihr ziemlich allgemeiner Gebrauch weist auf altgermanischen Glauben, auf heidnisch-religiöse Anschauung hin. Auch die christlichen
Thüringer glaubten noch, daß besonders in "peinlichen" Rechtsfällen, bei Ermangelung anderer Beweise, die Schuld oder Unschuld des Angeklagten durch göttlichen
Beistand entdeckt werden könne; die wahrhaftige Gottheit werde den Unschuldigen siegen, die Schuldigen unterliegen lassen. Am häufigsten kam der gerichtliche
Zweikampf in Anwendung; er war vielleicht unter allen Ordalien das am wenigsten trügliche Beweismittel und zugleich das beliebteste. Öfter wurde auch die
Feuer- sowie die WarmKaltwasserprobe
zur Ermittelung der Wahrheit angewendet. Dagegen scheinen Bahr- und Kreuzprobe
nicht in Gebrauch gekommen zu sein. Wer bei letzterer als Angeschuldigter das Glück hatte, unter einer verhüllten Reliquie und einem desgleichen Kreuze als Los
gerade zufällig das Kreuz zu ziehen, hatte damit seine Unschuld bewiesen. Noch bedenklicher war die Bahrprobe, weil dabei böser Wille
den vermeintlichen Gotteswillen zu unterstützen leicht möglich war. Sie wurde in alter Zeit angewandt zur Erkennung eines Mörders.
Blutete die leiche oder gab sie sonst ein Zeichen der Bewegung bei der Berührung durch den Beschuldigten, so war dieser als der Tat schuldig erkannt. - In vormittelalterlicher
Zeit konnten viele Vergehen mit "Geld" gebüßt werden, jetzt wurde schon der Diebstahl, der den Wert von 5 Schilling überstieg,
am Leben gestraft. Auf Beraubung z.B. einer Kirche oder eines Kirchhofs
stand Rädern. Ehebrecher und Zauberer
wurden zum Feuertode verdammt. Die Strafen erfolgten nach dem Grundsatz: "Zu Hals oder Hand, oder zu Hand oder Haar",
d.h. bei schweren Verbrechen verlor der Verurteilte entweder das Leben oder die Hand, mit der er die Tat vollbracht hatte. Bei leichteren Vergehen bestand die Buße
in Ehrenstrafen: Staupenschlag oder Scheren des Kopfes. Bei unseren Vorfahren war es Sitte, das Haar lang zu tragen; das "gerichtliche" Haarschneiden war ein Zeichen
der Schande. Die körperliche Züchtigung erfolgte mit der Staupe (mhd. stupe) oder mit dem Staupbesen; erstere war
eine lange, stärkere Rute, letzterer ein besenartig zusammengefügtes Rutenbündel. "Besen" ist noch heute eine verächtliche Bezeichnung für eine weibliche Person, und
"Staupbesen" erscheint verschärft als ein im Thüringen gebräuchliches Schimpfwort gegenüber einem durchtriebenen, mit allen
Wassern gewaschenen Frauenzimmer.
Eine beschämende Ehrenstrafe war auch die Verurteilung zum Halseisen, die z.B. Felddiebe traf.
Der wegen Felddiebstahls Verurteilte wurde am Pranger oder Schandpfahle, durch Halseisen angeschlossen, öffentlich ausgestellt. Diese Strafart muß lange in Thüringen üblich
gewesen sein. Schreiber dieses Aufsatzes erinnert sich, noch Anfang der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts in dem weimarischen Dorfe Denstedt ein Halseisen an einem
Gebäude gesehen zu haben, "Pietätvoll" konserviert als ein Zeichen alter Gerichtspflege. - Manche in Thüringen heimische Redensarten erinnern unwillkürlich an die
ehemals üblichen Gerichtsstrafen: "Es kostet Kopf und Kragen", "Er zieht den Hals aus der Schlinge", "Der wird Haare lassen müssen", "Du wirst Dir die Finger verbrennen".
Obwohl die moderne Bedeutung z.B. der letzteren Redensart weniger die ist, das jemand durch moralische Schuld leidet, sondern daß man überhaupt leidet, wenn man
nicht durch Mangel an Moral, so doch durch solchen der Klugheit, so erinnert sie fraglos an das gerichtlich verfügte Tragen von glühenden Eisen. Die Entstehung der
Redensart: "Einem aufs Dach steigen" wird auch auf einen alten Rechtsbrauch zurückgeführt. Die Jahrbücher Blankenburgs berichten vom Jahre 1594, daß es üblich war,
einem Manne, der sich von seiner Frau hatte schlagen lassen, so zu bestrafen, daß man ihm das Dach des Hauses abdeckte. Die Gemärker (Markgenossen) versammelten
sich vor dem Hause des Geschlagenen, und falls sich dieser nicht mit ihnen zu vergleichen oder abzufinden vermochte, wurde ihm auf das Dach gestiegen und ihm der First
und das Dach bis "uff die vierte Latt von oben abgerissen". Die gleiche Strafe ist noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts im Fürstentum Fulda an einem Manne amtlich vollzogen
worden durch die "sämtlichen in fürstlicher liverei stehenden Bedienten des fürstlichen Hofmarschallamts". - An den "Pranger" wird heutzutage gar mancher noch gestellt!
Die Zeiten der rohen Gewalt und der Selbsthilfe sind längst verschwunden. An die Stelle der rohen mittelelterlichen Sitten und des krassen, verderblichen
Aberglaubens sind Bildung und Gesittung getreten, und damit ist zugleich das Rechtsgefühl und das Rechtsbewußtsein gewachsen und gekräftigt worden. Wenn die 8
schwarzen und goldenen Felder im Schilde des sächsisch-thüringischen Wappens: "Acht rige swart or" (Acht Reihen Schwarz Gold), hieroglyphisch betrachtet, die
Bedeutung von: "Achte Gericht, Gesetz, Recht" haben, so wird diese Rechtsmahnung jenes uralten Semanenwappens
schon seit langer Zeit von Richtern, Schöppen und Volk in unserem lieben Thüringen getreulich beachtet.
(Thüringer Monatsblätter, 26.Jg., Nr.12, April 1918, S.111-114)