Volksaberglaube & Brauchtum


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Über alten Heilzauber hinter den Bergen
von Joachim Jünemann

   Fragt man "Ausländer", wie sie sich den Klang hessischer Mundart vorstellen, bekommt man in den meisten Fällen zur Antwort: Na, so etwa wie im Frankfurter Raum gesprochen wird! Daß nördlich der Linie Fulda - Gießen auch noch Hessen ist und daß dort ganz andere Mundarten vorherrschen, nehmen die meisten Fremden nur am Rande zur Kenntnis. Und wir, die Bewohner des Gebietes um die mittlere Werra, wissen, daß unsere Mundart ein Gemisch von kasselänerisch und thüringisch ist. Wissen wir aber auch, daß es im nordhessischen Raum, etwa um Diemel und Oberweser, auch niederdeutsche Mundarten gibt? Landesgrenzen und Sprachgrenzen sind nicht immer identisch; von den feinen Unterschieden von Ort zu Ort soll hier abgesehen werden.    Wir wollen im folgenden Kostproben einer Mundart vorstellen, die im Gebiet um den Hohen Hagen gesprochen wird, also nicht mehr auf hessischem, sondern schon auf niedersächsischem Territorium. Aber ähnliche Klänge (der Kenner hört natürlich die Unterschiede) würde unser Ohr wahrnehmen, wenn wir uns beispielsweise mit einem alten Fischer aus einem hessischen Ort an der Oberweser unterhalten könnten.    Vielleicht hat mancher einige Schwierigkeiten beim Lesen dieser Mundart, obwohl sie doch gar nicht von so weit her ist - nur ein paar Kilometer über Witzenhausen hinaus! Deshalb ist der Verfasser unserer Bitte um Übersetzung freundlich nachgekommen.    In der Heimatbeilage zu den Mündenschen Nachrichten vom August 1970 schreibt Joachim Jünemann, Dransfeld, über "Heilzauber hinter den Bergen". Aus dieser Arbeit bringen wir einige Auszüge.

Buße und Zauberei
   In den Ortschaften um den Hohen Hagen war der Aberglaube tief verwurzelt. Barner1) sagt, daß es ihm immer wieder auffalle, daß der Christ auf dem Dorfe überhaupt keinen Trennungsstrich zwischen das Zweierlei der Religionsinhalte aus heidnischer und christlicher Gedankenwelt setze. Er läßt kurz und bündig einen seriösen Kirchenvorsteher - hier lautschriftlich in unsere Grundsprache umgesetzt - erklären: "Kein Krist in'n Dörpe is ohne Awerglawen. Wenn düsse ut-starwet, cheit de Kerkenglawen mee tau Chrunne. Bälde höret tehaupe un sint ainundatsülwige!" (Kein Christ im Dorfe ist ohne Aberglauben. Wenn dieser ausstirbt, geht der Kirchenglauben mit zugrunde. Beide gehören zusammen und sind einunddasselbe.)
   Immer wieder hatten die Menschen durch Geschlechterfolgen erfahren, daß das "Baute daun" (Buße oder Besserung tun) hilft. Hierzu war jedoch der Glaube an die heilende Kraft der "Baute un Tawerie" (Besprechung und Zauberei) unerläßlich. Vom Glauben an die Macht des gesprochenen Wortes über Krankheit und Gefahr berichtet schon der Runenzauber Odins in der Edda. Auch galt der uralte Zauber nur dann als wirksam, wenn er von einem Manne auf eine Frau und von dieser wieder auf einen Mann vererbt und weiter gegeben worden war. Bemerkenswert bei fast jedem Zauber ist die bekannte christliche Schlußformel "Im Namen Gottvaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes", die ihn wohl überhaupt nur bis heute erhalten zu haben scheint, denn bei unseren Altvordern war im 8. Jahrhundert, nachdem sie dem Teufel, dem Teufelswerk, den Teufelsworten, Wotan, Saxnot und allen Unholden entsagt hatten, die Antwort auf die entsprechenden Fragen bei der Taufe: "ec ge-lobo in got alamehtigan fadaer. ec gelobo in Christ gotes suno. ec gelobo in halogan gast"2). (Ich gelobe in Gott, dem allmächtigen Vater, ich gelobe in Christus, Gottes Sohn, ich gelobe im Heiligen Geist.) So kam es, daß sich seitdem heidnischer Zauber und christliches Gelöbnis treulich zueinander gesellten. Allgemein waren Schäfer, Schmiede und Wehmütter als heilende Volksärzte tätig. In Jühnde sollen vor rund hundert Jahren nach dem Zeugnis Sohnreys3) "de ale Kaprölsche" vom Ilse-Hof und "de ale Stockhöwer" vom Meierhof der von Stockhausen das Besprechen besonders gut verstanden haben, so daß auch Kranke aus den Nachbardörfern zu ihnen kamen. Ich bin diesen Spuren sorgfältig nachgegangen und habe noch manch "ale Tawersche" (alte Zauberin) angetroffen. Solch ein Aufspüren ist schwierig, weil seit der Zeit der christlichen Missionierung schon die Zaubersprüche auf dem Index des von Karl dem Großen überlieferten Registers des heidnischen Aberglaubens unter der Überschrift "de incantationibus" (über Zaubersprüche) standen4). In einer Zeit, in der der bäuerliche Mensch auch schon diese Dinge mit den Worten "sau'n albern Wark" abzutun pflegt und die wenigen Eingeweihten mißtrauisch ihr Geheimnis hüten, gelang es mir, eine stattliche Anzahl der sprachlich oft dunklen Bannsprüche aus der Vergessenheit zurückzuholen.
   Bezahlung wurde für die "Baute" nicht verlangt, aber freiwillig gegeben. Der besprechenden Person bot man keinen Tagesgruß. Man sollte mit ihr möglichst überhaupt nicht reden. Sie begab sich schweigend zu dem hilfsbedürftigen Menschen oder Vieh und verließ diese nach geschehener Besprechung auch wieder schweigend. Bei dem Vorgang war es gewöhnlich so, daß die besprechende Person das kranke Glied mit drei Fingern der rechten Hand erfaßte und leicht umdrehte oder bestrich und dreimal anpustete, wobei die "Bauteformel" gemurmelt wurde. Zum Bestreichen nahm sie mit Vorliebe einen einjährigen Wurzelschoß von der "Quit-sche" (Eberesche, Sorbus aucuparia), der in der Walpurgisnacht durch einen einzigen Schnitt abgetrennt worden sein mußte.

Besprechen und Bannen
   Aus Bördel sind drei Blut- und Wundsegen überliefert, die auch Meyer5) schon erwähnt: "Sta Blaut sta! Sau de rechte Richter stat. Im Namen Gottes…" - "Hilger Chot! Dine hilgen Wunnen stillen dat Blot, dat et nich quillt un ak nich fret. Im Namen Gottes…" - "De hilligen fif Wunnen heilet de seste ut Harten chrunnen. Et quillt nich. Et swillt nich. Im Namen Gottes …" (Stehe Blut, steh! Wie der rechte Richter steht. - Heiliger Gott! Deine heiligen Wunden stillen das Blut, daß es nicht quillt und auch nicht frißt. - Die heiligen fünf Wunden heilt die sechste aus Herzensgrund. Es quillt nicht. Es schwillt nicht.)
   Man entnahm auch einer blutenden Wunde drei Tropfen Blut und träufelte sie in ein an der Spitze geöffnetes Hühnerei und warf dieses ins Feuer. Wenn das Ei verbrannt war, sollte das Blut gestillt sein. Das Pflaster von Wunden sollte man jedoch nicht ins Feuer werfen, sonst würde sich die alte Wunde wieder entzünden. Es hieß: "Smit dat Plaster nich int Fuier, süst fuiert et up!" (Wirf das Pflaster nicht ins Feuer, sonst feuert es auf.)
   Bannsegen gegen Würmer aller Art kann ich vier nennen: In Jühnde: "Up Chottes Bärge licht Chottes Acker. Up Chot-tes Acker licht Chottes Chorn. In Chottes Chorn steil Chottes Born. Up Chottes Borne wösset Chottes Appel. In Chottes Appel sticket de lege Worm. Da soll starben! Ha mach sin witt, swart, rad or chel. Im Namen Gottes…" (Auf Gottes Berge liegt Gottes Acker, Auf Gottes Acker liegt Gottes Garten. In Gottes Garten steht Gottes Baum. Auf Gottes Baume wächst Gottes Apfel. In Gottes Apfel steckt der böse Wurm. Der soll sterben! Er mag weiß, schwarz, rot oder gelb sein.) Diesen Spruch erwähnt auch schon Lauffer6), aber leider nur auf hochdeutsch, wobei er auf zwei Zwischen-Mittelsmänner verweist7). Zum Erkennen und zur Deutung der ursprünglichen "Bauteformel" ist gerade die plattdeutsche Überlieferung wichtig. In Bördel: "In'n Paradisch da steit en Disch drupp liggen drai Fisch. De este witt, de anner swart, de drette rad. Damee quetter ek den Worm dad. Im Namen Gottes…" (Im Paradies steht ein Tisch. Auf ihm liegen drei Fisch. Der erste weiß, der andere schwarz und der dritte rot. Damit drücke ich den Wurm tot.)
   "Here Worm, ek blase dek dor Mark un Born. Ek blase dek dor Blaut un Hörn. Im Namen Gottes …" - "An'n Jordan springet drai Born. Dainne sittet drai Worm. De este is swart, de anner is witt, de drette is blautrad. Damee segen ek düssen Worm dad. Im Namen des Vaters …". 8) (Herr Wurm, ich blase dich durch Mark und Wasser. Ich blase dich durch Blut und Horn. - Am Jordan entspringen drei Quellen. Darinnen sitzen drei Würmer. Der erste ist schwarz, der andere ist weiß, der dritte ist blutrot. Damit segne ich diesen Wurm tot.)

Bei Ausschlag und Entzündungen
   Gegen Hautflechten, Gesichtsrose, Ausschlag und Entzündungen aller Art gab es entsprechende Heilsegen. In Jühnde wurde bei Hautflechte das Gesicht des Kranken mit der Asche aus einem verbrannten Blatt Weißkohl, etwas Haferstroh und einigen Wacholderbeeren bestrichen, wobei man sprach: "De Wulle un de Flechten de chingen tesammen fechten. De Wulle wann. De Flechten verswann. Im Namen Gottes…" (Wolle und Flechte kämpften miteinander. Die Wolle gewann, die Flechte verschwand.)
   Ein anderes Mittel bestand darin, mit einem Leinenlappen über die erkrankten Hautstellen zu streichen und diesen Lappen dann einem Toten mit in den Sarg zu legen. In Meensen hatte ein Kind eine unheilbare Flechte. Es mußte entweder drei Dienstage oder drei Freitage vor Sonnenaufgang nach der alten Bachmann kommen. Diese besprach die Flechte mit Erfolg. Davon durfte das Kind aber niemandem erzählen9).
   Hatte jemand eine Augenlidentzündung, das sogenannte Gerstenkorn (hordeolum), so glaubte man, er habe es bekommen, weil er auf einen Kreuzweg geharnt habe. Unsere derbe unverderbte niederdeutsche Sprache bezeichnet noch heute überall um den Hohen Hagen dieses Gerstenkorn mit "Wegepisse"10). Zur Bannung dieser Krankheit nahm der Besprechende einen Zweig von der Schlehe mit drei Blättern, die wohl die göttliche Dreieinigkeit versinnbildlichen sollen, und strich mit ihm unter Murmeln des Spruches, der leider nicht mehr bekannt ist, kreuzweise über das Auge.
   Bei Augenblattern wurde, nachdem ein Lorbeerblatt zerkaut worden war, dreimal in das "böse" Auge gehaucht.
   Bei allgemeiner Entzündung, die "Anschöt" hieß, bereitete man Umschläge aus einem Brei von Leinsamen, Milch und Mehl.
   Bei einer Geschwulst hieß der Segen: "De Snegel un de Droke de chingen tesammen tau Woter. De Droke versap, de Snegel entlap. Im Namen Gottes…" (Die Schnecke und der Enterich gingen zusammen ins Wasser. Der Enterich ertrank, die Schnecke lief davon.)

Vom Zahnweh bis zum Schluckauf
   Bei Zahnweh umfaßte man einen Pflaumenbaum und sagte: "Twetschenborn ek kloge dek. Mine Tene ploget mek. Teneweih verchat. Twetschenbom bestat. Im Namen Gottes…" (Zwetschenbaum, ich klage dir. Meine Zähne plagen mich. Zahnweh vergeht, der Zwetschenbaum besteht.)
   Das Besprechen der Gicht war nur an Freitagen vor Sonnenaufgang wirksam. Gegen Krämpfe wurden die hinter den Ohren des Schweines liegenden "Knubberknoken" an der Luft getrocknet und zu Pulver gestoßen und mit etwas Wasser eingenommen.
   Gegen die fallende Krankheit sollte man das Herz eines "Multworm" (Maulwurf) trocknen, zu Pulver zerstoßen und mit Wasser einnehmen.
   Gegen Gelbsucht sollten lebende "Schapluise" (Schafsläuse), zwischen ein Musbrot gelegt und gegessen, wirksame Hilfe bringen.
   Gegen Magengeschwüre schnitt man von Weiden die jungen Ausschläge ab, trocknete sie und kochte davon einen Tee.
   Gegen das böse Fieber schlug man Sauerteig in ein Tuch und band es dem Kranken unter die Füße. Der Sauerteig entzog dem Körper die Fieberhitze.
   Gegen Halsschmerzen faßte man die Wirbelhaare mit einer Kneifzange und zog sie in die Höhe.
   Gegen "Lidörn" (Leichdorn, Warzen, Hühneraugen) gab es mancherlei Zauber. Soviel Warzen man hatte, soviel Knoten knüpfte man in einen Faden. Über jede einzelne Warze wurde der Reihe nach ein Knoten gezogen. Dann warf man den Faden nach rückwärts über den Kopf fort. In der Zeit, wo der Faden verfaulte, vergingen auch die Warzen. Man nahm auch eine Zwiebel und strich dreimal mit dieser über die Warzen. Hernach grub man sie so ein, daß der Regen der Dachtraufe darauf fiel. Sobald die Zwiebel vergangen war, waren auch die Warzen fort. In Jühnde sollte man während eines Leichenbegräbnisses an die Beke gehen und dreimal sprechen: "Ek wasche mine Lidörn af. De Dade nömet sä mee in't Graff. Im Namen des Vaters…" (Ich wasche meine Warzen ab. Der Tote nimmt sie mit ins Grab.) Oder man ließ "chele Snegel" (gelbe Schnecken; Limax em-piricorum) über die Warzen kriechen.
   Gegen den Schluckauf gab es auch einen Heilzauber. Er hieß: "Sluck up huck up! Lap owern Steg. Sluck up blif weg! Im Namen Gottes des Vaters…" (Schluckauf, hock dich auf. Lauf über den Steg. Schluckauf, bleib weg.)

"Baute" bei Vieh und Pflanzen
   Ebenso wichtig wie den Menschen nahm man bei Krankheiten das Vieh. Ein Fremder durfte früher kaum in die Ställe sehen oder sie gar betreten. Man befürchtete, daß Neid und Mißgunst die Tiere beeinflussen und krank werden lassen könne. So hörte ich über einen Händler sagen: "Ha hat dat Veih bekappelt; dorümme fret et nich." (Er hat das Vieh verzaubert, darum frißt es nicht mehr.) Vorsichtig, wie man war, ließ man es sogleich besprechen. Wenn jemand sagte, daß die Ferkel gut geraten seien, sagte der Bauer: "Beraup sä man nich!" (Berufe sie nicht!)
   Es gab vielerlei merkwürdige "Baute". Ein gekauftes, nicht selbst aufgezogenes Schwein trieb man über dreierlei Eisen in die Koben, damit es gesund bliebe. Gekaufte Hühner ließ man durch ein Hemd auf das Stroh der Hofstelle fliegen. Solche "Strabaute" sollte ihr Fortlaufen verhindern. Unter dem "Nadfüier" oder "willen Füier", das noch um das Jahr 1910 überall auf unseren Dörfern bekannt war, verstand man ein vom geriebenen Holz erzeugtes Feuer, das Kraft seiner Ursprünglichkeit Reinigung und Heilung für seuchenhafte Viehkrankheiten verhieß. In einem mit Hecken umsäumten Hohlwege wurde mit ihm Stroh und Holz angezündet. Sobald es brannte, wurden die kranken Tiere, vornehmlich Schweine, hindurchgetrieben. Man streute auch noch Getreidekörner zwischen den Brand, ließ die Tiere davon fressen und gab ihnen die Holzkohle in das Tränkewasser. Auch dieser Heilzauber geht auf sehr alte Vorstellungen zurück. Er stand im 8. Jahrhundert unter dem von Karl dem Großen verhängten Index11), in dem es hieß: "De igne fricato de ligno, id est nodfyr" (über das Feuer vom geriebenen Holze, welches das Notfeuer ist).
   Auch über das Pflanzen und Säen gab es entsprechende Zauber. Hatte man sich einen Ableger für eine Topfpflanze vom Nachbarn erbeten, mußte man in Jühnde dafür eine "Spendel" (Nadel mit buntem Glaskopf) als Gegengabe geben ohne sich zu bedanken. Es hieß: "Dank sejje ek nich, süst chat ha nich an." (Dank sage ich nicht, sonst wächst er nicht an.) Das Spengelgeben ist wohl ein Rest alten Wertmessens, das sich vom Geben einer Spange als Weihegabe in früherer Zeit herleitet.
   Der "Awerglaube" im "Baute daun" ist eine bedeutungsvolle Lebensäußerung unseres Volkstums, wie wir aus den zahlreichen Beispielen, die nur noch ein Rest der einstigen Fülle darstellen, folgern können. Welche abgeklärte Weisheit und welcher niedersächsische Schalk ist in dem Sprichwort beschlossen: "Alle Baute helpet, sejjt de Moie un miget in't Woter." (Jede Beschwörung hilft, sagte die Mücke und pinkelte ins Wasser.)

Anmerkungen:
1) Wilhelm Barner: Bauopfer und Hausschutzzauber im Lande zwischen Hildesheimer Wald und Ith. In: Niedersachsen. Zeitschrift für Heimat und Kultur. Hildesheim 1968, Heft 5, S.265-266.
2) Alfredus Boretius: Monumenta Germaniae Historica. Capitularia Re-gum Francorum. Hannover 1883, l. Band, S.222.
3) Heinrich Sohnrey: Zwischen Dorn und Korn. Berlin 1934, S.25.
4) Vgl. Boretius: a.a.O. S.223 unter Nr. XII.
5) Philipp Meyer: Zaubersprüche aus Bördel bei Dransfeld. In: Zeitschrift d. Gesellsch. f. nieders. Kirchengeschichte. 40.Jhg. Heft 1935, S.229 und 230.
6) Otto Lauffer: Volkskundliche Erinnerungen aus Göttingen und dem Leinetal. Göttingen 1949, S.133.
7) Spinnstube vom 13. April 1924 und Bruno Cromes Mitteilungen 2, S.5.
8) Vgl. auch Philipp Meyer: a.a.O. S.231.
9) Oberliefert von Auguste Teichgräber geborene Hildebrandt, Meensen, geb. 1874. - In Achtung der ureigenen Bereiche des Einzelmenschen mußten weitgehend für die Besprechungsformeln und Riten die noch lebenden Gewährsleute ungenannt bleiben.
10) Vgl. auch Georg Schambach: Wörterbuch der niederdeutschen Mundart der Fürstenthümer Göttingen und Grubenhagen. Göttingen 1858, S.291.
11) Vgl. Boretius: a.a.O. S.223.

(Das Werraland, Heft 4, 1973, 25.Jg. S.63-65)

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Heilige Wetzrillen
von Karl Josef Minst

Wetzrillen sehen wir in der Lorscher Königshalle an Türgewänden und Pfeilern in reichlicher Menge. Sie sind sehr alt und finden sich auch andernorts; bei uns hauptsächlich in Vorhallen von Sakralbauten und Gerichtshallen, die vor dem Anfang des 15. Jahrhunderts errichtet wurden. Sie gehen nicht nur in die germanische, nicht nur in die indogermanische Zeit zurück, sondern in die ältesten Kulturen der Menschheit. Im alten Ägypten bereits treten sie an den Torgewänden von Tempeln auf, sogar an solchen Bauteilen, die schon seit Jahrtausenden vom Wüstensand bedeckt waren und jetzt erst wieder freigelegt werden. Sie verdanken dem Aberglauben an die heilbringende Wirkung einer solchen Wetztätigkeit an geheiligter Stätte ihr Entstehen:

Der Krieger, der hier sein Schwert - tatsächlich oder auch nur symbolisch - wetzt und dadurch weiht und feit, macht seine Waffe unbezwingbar. Wird er trotzdem besiegt, hat das Schwert seines Gegners die Weihe an einer noch viel heiligeren, noch viel wirksameren Stätte erhalten.

Der Bauer, der hier Sand aus dem Sandstein herausschleift, heilt mit diesem heiligen Sand, den er unter das Futter mischt, sein krankes Vieh. Steht es dennoch um, war das an sich unfehlbar wirkende Mittelchen wohl zu spät angewendet worden.

Das heilige Sandsteinmehl, in die Ackerfurchen gestreut, bewirkt eine gesegnete Ernte. Mißrät sie, dann dürfte der Sämann die bei der Aussaat erforderliche, genau vorgeschriebene Anrufung der Heiligen nicht richtig hergesagt haben.

Und noch zu gar vielen anderen nützlichen Sachen und schönen Dingen ist das heilige Sandsteinmehl gut, vorausgesetzt natürlich, daß es in den zwölf Heiligen Nächten, den "Rauhnächten" (25. Dezember bis 6. Januar) ausgekratzt wurde. Unabdingbar ist dabei selbstverständlich auch absolutes Schweigen. Ansonsten rutscht das schabende Werkzeug aus und kann den Wundergläubigen nicht unerheblich verletzen. Zudem macht ein einziges gesprochenes Wort das Zaubermittel unwirksam.

Auch als Philtron, als Liebestrank, ist es brauchbar. Es kann Liebeskummer heilen und unglückliche Liebe wieder beglücken. Ein verlassenes Mägdelein muß trachten, seinem ungetreuen Geliebten etwas von diesem sandigen Arcanum im Wein beizubringen. Er wird dann wohl mit den Zähnen knirschen, aber das schadet nicht. Im Gegenteil, auf dieses Zähneknirschen wird alsbald eine tiefe Zerknirschung des Herzens und der Seele folgen: Der Treulose wird reumütig zurückkehren. Tut er das trotzdem nicht, soll das arme liebeskranke Mädchen sich trösten, den Verlust als ein großes Glück betrachten und nach einem anderen, besser gearteten Liebhaber Umschau halten.

Ähnlich wie in Lorsch ist auch in Goslar vom alten Dom gegenüber der Kaiserpfalz nur die Vorhalle erhalten geblieben. Heilige Wetzrillen in deren Torgewänden sollen nicht nur der Schärfung, sondern auch der Entschärfung von Hiebwaffen in folgender Weise gedient haben: Der Edelmann, der zur Kirche geht, muß in der Vorhalle sein Schwert ablegen und zurücklassen. Schiebt er aber die bloße Klinge vom Ort bis zur Parierstange durch eine solche Rille, so ist sie entschärft, denn die Schärfe zieht sich nun in den Schwertgriff zurück. Die Waffe darf also ohne weiteres in die Kirche mitgenommen werden. Auf dem Rückweg eine ähnliche Manipulation, aber in entgegengesetzter Richtung: Die Klinge wird diesmal von der Parierstange bis zum Ort durch die heilige Wetzrille gezogen, und - siehe da! - das Schwert ist wieder scharf.

In Thüringen haben solche heilige Wetzrillen wieder andere Deutungen gefunden: Bei Eheschließungen, Kaufverträgen oder Vereidigungen bekräftigt der Mann seinen Schwur dadurch, daß er sein Schwert dreimal durch eine vorhandene heilige Wetzrille führt. Er steht nunmehr mit seinem Schwert und seiner ritterlichen Manneswürde für das gegebene Wort ein.

Im Saargebiet bringt man die heiligen Wetzrillen in Zusammenhang mit Gottesurteilen und erzählt hierzu eine gar nicht so recht glaubwürdig klingende Geschichte: Der Angeklagte, der mit seinen Fingernägeln solche Furchen in den Sandstein ziehen kann, ist schuldlos, denn nur Gott kann diesen dünnen, schwächlichen Horngebilden solche Kraft verleihen. Andernfalls ist die Schuld des von Gott verlassenen Angeklagten erwiesen. Und dem Verlust seiner Fingernägel folgt der Verlust seines armen Kopfes.

In Melsungen an der Fulda, Schwalm-Eder-Kreis, finden sich an den Brückenpfeilern der Straßenbrücke über die Fulda Schleifspuren in großer Zahl. Es ist dort heute noch bekannt, daß diese von Beilen der diese Brücke passierenden Fuhrleute stammen. Zum unentbehrlichen Rüstzeug dieser Männer gehörte ein Beil, das auf offener Straße, in Hohlwegen, auf Waldpfaden häufig genug Verwendung fand. Beim Verlassen der Vaterstadt war nun das symbolhafte Wetzen des Beiles vom Segen des Himmels begleitet, vom Segen Mariens und der vierzehn heiligen Nothelfer, deren Statuen auf den Brückenpfeilern gestanden haben mögen. Noch heute führt der Melsunger den Spitznamen "Bartenwetzer" (Barte ist ein alter Ausdruck für Beil; vgl. Hellebarde = Halmbarte, also eine Barte, ein Beil, welches auf einem Halm, einem Schaft, befestigt ist).

In das Gebiet der Ordalien (Gottesurteile) fällt auch die Erzählung von Zweikämpfen, die in der Weise ausgefochten wurden, daß die beiden Gegner im Takt mit ihren Schwertern in den geweihten und geheiligten Sandstein hieben. Wessen Schwert zerbrach oder sonstwie bedeutenden Schaden nahm, der mußte sich geschlagen bekennen.

Auch die Volkssage hat sich der heiligen Wetzrillen liebevoll angenommen: Am Dom von Braunschweig sind sie natürlich vom Löwen, dem angeblich anstelle eines Hundes fungierenden treuen Begleiter des Welfenherzogs Heinrich des Löwen verursacht. Das arme Hündchen durfte nicht mit in die Kirche. Aus Ungeduld und Langeweile zerkratzte es die Türpfosten. Das war wohl etwas unartig von dem Löwenhunde bzw. Hundelöwen. Der Makel, der sein Gedenken bei der Nachwelt durch diese Sage belastete, mußte wieder getilgt werden. Und flugs war eine entsprechend veredelnde Version zur Stelle: Der Löwe begleitete die Bahre seines toten Herrn im Trauergefolge bis an das Portal des Domes, das ängstliche Leidtragende vor dem seltsamen Trauergast verschlossen. Der Löwe aber ließ sich an der Pforte nieder und war nicht mehr zu bewegen, seinen Wachtposten aufzugeben. Er verweigerte die Annahme von Trank und Speise. Und als sein letztes Stündchen nahte, erfaßte ihn noch einmal schmerzliche Sehnsucht nach seinem toten Herrn und Namensvetter, und in grenzenlosem Leid krallte er seine Pranken in die steinernen Türpfosten. Nach seinem Tode mußte man dem armen Tier die beiden Vorderpfoten abhacken, weil sie im Stein festsaßen.

Auf der Wartburg hat sich eine niedliche Volkssage erhalten, wonach diese heiligen Wetzrillen eigentlich gar nicht so besonders heilig wären, denn ihr Urheber ist -
„das steht ganz außer Zweifel, Gottseibeiuns, der Teufel".

Der Leibhaftige habe nämlich vergeblich versucht, an die geheiligte Stätte vorzudringen. Und in geradezu teuflischer Wut über seinen Mißerfolg habe er mit seinen Klauen die Torleibungen zerkratzt.

Karl Josef Minst

(Aus: Kleine Beiträge, in: Geschichtsblätter für den Kreis Bergstraße, Bd.8 (1975), S.221-225)


Heilige Wetzrillen

Anmerkung zu dem Beitrag von Karl Josef Minst in den Geschichtsblättern für den Kreis Bergstraße, Bd.8 (1975), S.221-225
Der Aufmerksamkeit von Herrn Rektor Werner Haas, Kleiststr. 17, 695 Mosbach, verdanken wir folgenden Hinweis:

   Anweisung, das Vieh schnell zu mästen
Dieses sollen die Bauern zu Bürkheim [= 5449 Birkheim über Kastelaun] in der Churpfalz ausgeschlauet haben. Es war ein dasiger Wunderaltar dafür berühmt worden, daß seine Erde dem Vieh sehr wohl bekäme. So oft daher die Bauern wallfahrteten, so schabten sie jedesmal eine Porzion davon ab, und mengten sie dem Vieh unter das Futter; sie würden auch ohnfehlbar endlich den ganzen Altar verfüttert haben, wenn es ihnen nicht bekannt gemacht worden wäre, daß der Altar aus Gypsstein bestünde, und jeder andrer Gyps gleiche Wirkung thun würde. Die Bauern ließen sich weisen, und dadurch ist der Altar glücklich gerettet worden.

Aus: Noth- und Hülfsbüchlein für Bürgers- und Bauersleute. Worinnen für beide Stände sehr viel Lehrreiches, den Karakter Bildendes, und für die Land- und Hauswirthschaft Ersprießliches zu finden. 6. Band, Grätz [= Graz], bei Franz Xaver Miller, 1793, S.196.
(Kleine Mitteilungen, in: Geschichtsblätter Kreis Bergstraße, Bd. 9 (1976), S.233)

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