Deutschland Baden-Württemberg Lkr. Böblingen

Herrenberg


Abbildung bei
Losch (1981)

PLZ: 71083

GPS: N 48° 35,088', O 8° 51,057'

Standort: Am Haslacher Weg.

Größe / Material: 50:84:13 / Schilfsandstein

Geschichte: Das Kreuz ist im Laufe der Jahre tief im Boden versunken. Es ragt gerade noch 50cm heraus.

Am Haslacher Weg, ca. 2km südwestlich Herrenberg, auf der alten Markungsgrenze Haslach-Herrenberg.
Beschreibung:Schilfsandstein. Bis über die Armunterkanten in den Boden eingesunken.
Maße: H 55, B 84, T 13, HK 28, LA 29, AK 23,5-29, AA 25-33.
Form: Tatzenkreuz; Querbalken betont.
Datierung: ca. 15.Jh.
Ein Zusammenhang mit den Sühneverträgen von Herrenberg erscheint naheliegend.
Die Anwohner nennen das Kreuz "Sühnestein" oder "Sühnekreuz"; vermutlich neuerdings so übernommen von Erläuterungen vor Schulklassen am Standort des Denkmals. (Losch 1981)

Sage: Der volkstümlichen Überlieferung zufolge, sollen sich zwei Schäfer um Weideland für ihre Herden gestritten haben. Der Streit wurde so heftig geführt, dass am Ende beide tot auf der Strecke blieben.

Quellen und Literatur:
Losch, Bernhard - Sühne und Gedenken. Steinkreuze in Baden-Württemberg, Stuttgart 1981, S.11
Kapff, Dieter / Wolf, Reinhard - Steinkreuze, Grenzsteine, Wegweiser, 2000
Kapff, Dieter / Wolf, Reinhard - Sühne und Totengedenken, in: Stuttgarter Zeitung vom 04.09.1997
recherchiert und bebildert von Thomas Schnepf, Reutlingen (Foto von Juli 2011)



Sühne und Totengedenken
Dieter Kapff / Reinhard Wolf

Am Haslacher Weg, an der alten Markungsgrenze zwischen Herrenberg und Haslach, stößt der Spaziergänger auf ein steinernes Kreuz, das tief in der Erde steckt. Es ist noch einen halben Meter hoch und hat knapp 30 Zentimeter lange Arme. Ein Grabkreuz? Liegt hier einer beerdigt? Nein, es ist ein Sühnekreuz, das schon rund 500 Jahre auf dem Buckel hat.
Das schon deutlich verwitterte Kleindenkmal erinnert an Lebensumstände, die uns heute fremd sind. Es ist Ausdruck von Vorurteilen und Problemen und läßt erkennen, wie Streitfälle damals nicht juristisch, sondern pragmatisch gelöst wurden.

Hier, an der Gemarkungsgrenze, sollen sich, volkstümlicher Überlieferung zufolge, zwei Schäfer um Weideland für ihre Herden gestritten haben. Der Streit wurde so handgreiflich und so heftig geführt, daß am Ende beide tot auf der Strecke blieben. Schäfer waren in der bäuerlich-handwerklich geprägten Welt des Mittelalters und der frühen Neuzeit gesellschaftliche Außenseiter. Sie lebten unstet und draußen in der Natur und fühlten sich an die Verhaltensnormen der Dörfler oder gar Städter nicht gebunden.

Ob es freilich zwei Schäfer waren, die hier den Tod fanden, oder ganz andere Personen, von denen einer den anderen erschlagen hat, kann niemand sicher sagen. Nur daß dem Opfer ein Sühnestein gesetzt wurde, ist augenscheinlich. In Herrenberger Archivalien sind aus dem 15. Jahrhundert drei Fälle von Totschlagssühne überliefert.

Wenn einer einen Mitmenschen getötet hatte, so kam es meist zu Blutrache und privater Vergeltung des Unrechts durch die Hinterbliebenen des Opfers. Das führte dann zu endlosen Familienfehden, denn die staatliche Strafverfolgung war entweder unwirksam oder gar unerwünscht. Um den für die Gemeinschaft nötigen Rechtsfrieden wiederherzustellen, unterstützte die Kirche den Abschluß eines friedenstiftenden Sühnevertrags, den beide Parteien miteinander aushandelten.

Solch ein Sühnevertrag sah eine finanzielle Entschädigung der Hinterbliebenen vor, der Täter mußte auch Gebühren an weltliche und kirchliche Vermittler entrichten und eine Totenmesse für das Opfer stiften. Er bezahlte die Aufstellung eines steinernen Sühnekreuzes in der Nähe des Tatorts, zu dem dann Opfer- und Täterfamilie samt geladenen Gästen versöhnlich in feierlicher Kerzenprozession zogen.

In einem erhaltenen Sühnevertrag von 1474 aus Herrenberg ist festgelegt, daß der Übeltäter ,"zu trost und Heyl des erslagen sele in der Marck Heremberg...ein steinin Crutz" setzen muß. Wegen der besseren Öffentlichkeitswirkung "verlegte'" man den Ort des Verbrechens gern an einen Weg oder eine Straße, wo die Vorüberkommenden das Sühnekreuz besser sehen und sich an die Geschichte erinnern konnten. Eine Inschrift auf dem Kreuz war nicht erforderlich, denn die einfache Bevölkerung hätte sie damals gar nicht lesen können. Die Steinkreuze nahm man gerne als Orientierungspunkte und nannte die Flur danach: Beim Kreuz, Kreuzäcker.

Die hohe Zeit, Sühnekreuze zu setzen, war das 15. und 16. Jahrhundert, in denen dieser Brauch gängig, ja alltäglich war. Die Reformation drängte die ausgefeilten, umfangreichen katholischen Sühnezeremonien zurück. Der Dreißigjährige Krieg, der die Bevölkerung dezimierte, ließ die Erinnerung weiter schwinden. Doch der Brauch blieb auch in protestantischen Gegenden lebendig.

Im 17. bis 19. Jahrhundert, als der Staat die Rechtspflege stärker in die Hand nahm, sind keine Sühnekreuze mehr gestiftet worden. Nunmehr setzte man Gedenkkreuze, die an einen tödlichen Unfall (mit dem Fuhrwerk oder durch Blitzschlag etwa) oder an einen Totschlag (wenn ein Wilderer einen Forstmann erschoß) erinnern sollten. Im Kuppinger Wald gibt es aus dem frühen 17. Jahrhundert solch einen "Forstknechtstein''.

Wenn Steine reden könnten, sie erzählten uns gar erschröckliche Moritaten, Geschichten aus einer längst vergangenen Phase der Rechts- und Sozialgeschichte. Auch wenn angesichts eines Sühnekreuzes der ehrfürchtige Schauer uns heute nicht mehr erfaßt, wenn die Angst vor Spuk und Verwünschungen, die dem gelten, der das Steinkreuz beseitigt, uns nicht mehr schrecken können, sollten wir diese Kleindenkmale, hinter denen Menschenschicksale stehen, pfleglich behandeln. Allzu viele sind in unserem Jahrhundert schon verschwunden.
(Quelle: Stuttgarter Zeitung vom 04.09.1997 und Kapff, Dieter / Wolf, Reinhard - Steinkreuze, Grenzsteine, Wegweiser..., 2000)


Sühnekreuze & Mordsteine