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Ruhen, Mahnsteine und Napoleonsbänke
Ein früher bedeutsames Kulturdenkmal der dörflichen Flur
Von Kurt Mötzing
Im Jahre 1964 erschien im H. Schroedel-Verlag, Darmstadt, der 2. Band des Heimatbuches "Vogelsberg und Schlitzerland", herausgegeben
von dem damaligen Schulrat Dr. Georg Michel, Lauterbach/Hessen, unter dem Titel "So Leut' sein mir im Vogelsberg und Schlitzerland". Während der 1. Band, 8 Jahre
früher veröffentlicht, einen Überblick vermittelt über Geologie, Klima, Pflanzen, Tiere und Menschen in ihrer Abhängigkeit von den natürlichen Gegebenheiten, aber auch
Volksbrauchtum, Mundart und Volkslied gewürdigt werden, zieht der 2. Band den Rahmen enger. "Er will in das Innenleben unserer Bevölkerung, in die geheimen Winkel
des seelischen Lebens hineinleuchten und damit Art und Wesen unserer heimischen Bevölkerung zu ergründen suchen." Es ist z.B. vom Glauben des Volkes, von
Volksrätseln und Volkshumor die Rede, belegt mit zahlreichen Beispielen. Sagen mannigfaltiger Art werden erzählt, u.a. auch solche von Grenzsteinen und alten Steinkreuzen.
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Typen der “Ruhe”
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“Ruhe“ auf dem Sandershäuser Berg gegenüber dem Forsthaus an der alten Kassel-Mündener
Landstraße Aufn. Mötzing
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”Napoleonsruhe“ vor dem gräflichen Gärtnerhaus in Schlitz Aufn. Mötzing |
Eine andere Art Kulturdenkmal, das Zeugnis gibt von einem Zeitalter, das die moderne technische Entwicklung längst abgelöst hat, welches aber noch erinnert an
Verhältnisse, in denen unsere Großväter zu Hause waren, wird an keiner Stelle des Buches erwähnt. Wir gehen heute achtlos an diesen Kulturdenkmalen vorüber,
übersehen sie ganz, und wenn wir sie schon erblicken, so können sie uns nichts mehr sagen, weil die heutigen Menschen meist keine Erinnerung mehr haben von den
Bedürfnissen unserer Vorfahren, die diese Dinge entstehen ließen.
Es scheint so, daß auch der Herausgeber der Vogelsberger Heimatbücher die von mir vermißten Kulturzeugen nicht kennt oder nicht für bedeutsam genug hält,
sie in seinen Büchern zu erwähnen, und deshalb soll im folgenden von ihnen die Rede sein.
Es handelt sich um eigenartige Steinbänke, die man heute noch in hessischen Gemarkungen, aber auch in den südlich angrenzenden Landesteilen, nicht zuletzt
auch in der Schlitzer Gegend antrifft. Sie bestehen meist aus Sandstein, die älteren aus Holz. Zum Sitzen sind sie zu hoch, oft zweistufig, die einzelnen Teile fast immer
durch eiserne Klammern zusammengehalten. Im Volksmunde heißen sie "Ruh". Oft sind sie durch ihre eigene Schwere im Laufe der Zeit in den aufgeweichten Boden
eingesunken, von Gras und Unkraut überwuchert oder sogar längst verschwunden. Nur Flurnamen wie "an der Ruh", "bei der Ruh", "Ruhacker" deuten auf ihr ehemaliges
Vorhandensein hin. Im Geschoßbuch der Stadt Heuchelheim bei Gießen von 1728 findet sich die Flurbezeichnung "neben dem Pfadt bei der Ruh", und aus einer
Gemeinderechnung von 1784 ist zu entnehmen, daß die Gemeinde "4 Ruhbretter, eins unter den Weidenstämmen ..." zu unterhalten hatte.
Eine gut erhaltene "Ruh" steht mitten in der Stadt Frankfurt in der Forsthausstraße. Der lebhafte Verkehr brandet vorüber, die eiligen Fußgänger nehmen keine
Notiz. Das Gebilde ist funktionslos geworden. Nur der interessierte Heimatfreund bleibt stehen und macht sich seine Gedanken. Eine andere "Ruhe" befindet sich
zwischen Hochstadt und Wilhelmsbad in einer Länge von 5,30m, der mittlere Steinbalken ist 1,55m hoch, die Seitenbänke 0,85m lang. Unter der Bank steht der
"Dreimärker" von Hochstadt - Börnigheim - Wachenbuchen. Bei Bergen-Enkheim steht eine "Ruhe" mit der Jahreszahl 1766, die obere Bank ist 2m lang und 1,35m hoch,
die untere 1,7m lang und 0,38m hoch. Um Münzenberg befinden sich mehrere in einfacher Ausführung. Der horizontale Balken ist aus gelblichem Standstein, 2,4m lang;
das Ganze ist 1,20m hoch. Die Ruhe an der Straße Saalburg-Usingen kann nicht älter sein als 1816, da erst in diesem Jahre die Landstraße angelegt wurde. Das Alter
der Ruhen ist sehr verschieden, wie schon aus dem bisher Gesagten zu erkennen ist. Im "Heimatblatt von Kreuznach" 32. Bd. Nr.17 geht aus einem Zinsbuch aus dem
Jahre 1532 hervor, daß damals schon Ruhen vorhanden waren. Es heißt dort an einer Stelle "uffm breidem Weg bey der Ruhen ...". In Nordhessen finden wir mehrere
auch als Ruhen anzusprechende Gebilde, so an den viel begangenen Landstraßen, wie z.B. bei Kerstenhausen (Bundesstraße 3), bei Dissen (Bundesstraße 3), bei
Hebenshausen (Leinetal, Bundesstraße 27), an der alten Straße Kassel - Hann. Münden gegenüber dem Forsthaus auf dem Sandershäuser Berg, eine andere in der
Gemarkung Niedermoos/Vogelsberg. Meist stehen diese funktionslos gewordenen ungepflegten Bänke unter schattenspendenden Bäumen, meist Linden.
Ein anderer Name für die "Ruhen", der auch ihre Bedeutung erkennen läßt, sind die "Mahnsteine", wie sie in der Hanauer und Frankfurter Gegend bis in den
Rheingau hinein genannt werden. (Mahne = Korb ohne Henkel, Kotze.) Sie dienten zum Abstellen von Lasten, die auf dem Kopf oder Rücken getragen wurden (Säcke,
Körbe, Bütten, Kiepen, Kotzen, siehe auch Georg Landau "Beschreibung von Kurhessen" S.570). Die Hausierer, damals eine häufige Erscheinung auf den Landstraßen,
konnten ihre Kiepen bequem auf dem oberen Balken abstellen. Pferdefuhrwerke oder Bauern mit Handwagen konnten unter den schattigen Linden nach ermüdendem
Marsch eine Ruhepause einlegen. Frauen, die vom Felde oder aus dem Walde kamen, setzten ihre "Traget" (Grünfutter) gern auf der willkommenen Bank ab oder lehnten
ihre "Boärre" (Leseholz, von franz. bouree?) daran, um sich auszuruhen oder auch "schain zu mache", d.h. ihre Haare oder ihr Kopftuch in Ordnung zu bringen. Als ich
vor Jahren die beiden "Ruhen" bei Schlitz suchte und mich bei Einwohnern danach erkundigte, wußte die jüngere Generation nichts davon. Von älteren Leuten bekam ich
dann die Auskunft: "Sie stehen an der Lauterbacher Straße bei der ersten und zweiten 'Verschainerunge'." Ich fand dann die beiden Steine hintereinander jedesmal an
der Stelle, wo ein Feldweg auf die Hauptstraße stößt. Es war der gegebene Ort, sich vor Erreichung der Stadt "schain zu mache". Es wäre höchste Zeit, diese
Kulturzeugen recht bald wieder in der ursprünglichen Weise aufzustellen; denn tief in dem Erdboden versunken und von Gras überwuchert, droht ihnen die Gefahr des
Unterganges. (Ein treffendes Beispiel mangelnder Landschaftsund Kulturpflege.) An der Bergstraße bei Auerbach verdanken einige der "Mahnsteine" dem Bahnbau ihre
Entstehung, damit die Landleute bei geschlossener Schranke ihre Lasten absetzen konnten. Die zweistufigen erleichterten den Kindern das Abstellen ihrer Bürde oder
konnten zum Sitzen benutzt werden, während der Rückenkorb der Erwachsenen auf der oberen Steinbank ruhte.
Besonders interessant ist die Tatsache, daß sehr oft, wie in Elsaß-Lothringen, in der Pfalz, aber auch in Schlitz diese Steinmäler als "Napoleonsbänke" oder
auch "Roi de Rome" bezeichnet werden. Man erzählt, vor der Geburt des unglücklichen Königs von Rom 1811 habe Napoleon l. oder seine Gemahlin Marie Louise
wahrgenommen, daß schwangere Frauen beim Ausruhen von der Arbeit oder beim Wandern die auf dem Kopf oder Rücken getragene Last zwar ohne fremde Hilfe
herabnehmen, aber nicht wieder auf Kopf oder Rücken emporheben konnten, ohne ihre Gesundheit zu gefährden. Der Kaiser habe daher nach der Geburt seines Sohnes
angeordnet, daß überall an geeigneten Stellen zu Nutzen der Frauen in gleichen Umständen wie seine Gemahlin Steinbänke aufgestellt würden, die in Kopf- bzw.
Rückenhöhe eine Abstellplatte für Lasten trügen. Eine Variante dieser Deutung führt die Aufstellung von Steinbänken auf Napoleon IM. und die Geburt seines Sohnes
Lulu (1856) zurück. Eine gewisse Glaubwürdigkeit gewinnt diese Annahme dadurch, daß vielfach an den Bänken die Jahreszahl 1857 angebracht ist. Übereinstimmend
in beiden Erzählungen ist die Bezeichnung eines Kaisers Napoleon als Anordner und die erwartete bzw. eingetretene Geburt eines Nachfolgers als unmittelbarer Anlaß.
So erklärt sich der sonst unverständliche Name "Napoleonsbank". Eine "Napoleonsruhe" steht an der Straße von Schlitz nach Pfordt vor dem gräflichen Gärtnerhaus
bei der Hallenburg. Die ziemlich hohe und schmale Bank trägt auf der Vorderseite des Sitzsteines die Inschrift "respect au fardeau". Auf der linken Kopfseite liest man
E.G. (Emil Görtz), auf der rechten die Zahl 1866. Die Bank ist also noch recht jung und wurde noch vor kurzer Zeit zum Abstellen von Kotzen benutzt. In Schlitz erzählt
man sich, Napoleon habe hier nach der Schlacht von Leipzig gerastet, z.a. hört man auch die Version, Napoleon sei einst einem Lastträger auf der Straße ausgewichen
und habe zu seinem erstaunten Gefolge gesagt: "Achtung vor der Last!"
Dieser Ausspruch soll den Grafen von Görtz veranlaßt haben, auf die Bank die oben angeführte französische Inschrift zu setzen. Es ist nicht sicher, daß die mit
"Napoleonsbank" bezeichneten Ruhen in der Pfalz, im Elsaß und in Schlitz wirklich mit Napoleon I. oder III. in Zusammenhang stehen, wenn es auch der bekannte
Volkskundler Dr. W. Behaghel aus Darmstadt behauptet. Jedenfalls haben die Mahnsteine in Hessen, in der Wetterau und auch im Odenwald nach meiner Meinung nichts
mit dem französischen Kaiser zu tun. Vielleicht verhält es sich so wie mit den "Schwedenschanzen", "Franzosenkreuzen", "Franzosenstraßen" und in unserm Falle mit
den "Napoleonsbänken". Weil der Dreißigjährige Krieg, der Siebenjährige Krieg und auch die Gestalt des Kaisers Napoleon bei den damaligen Zeitgenossen
unauslöschbare Erinnerungen hinterlassen haben, ist es kein Wunder, wenn oben erwähnte Erscheinungen in der Landschaft mit ihnen in Verbindung gebracht werden.
Übrigens gibt es auch weit primitivere Formen der Ruhen. Ich erinnere mich an eine, die aus einem auf kniehohen Feldsteinen liegenden Mühlstein bestand. Sie
befand sich auf einer Anhöhe an der Straße nach Spichra an der Werra. Denselben Zweck erfüllte oft auch ein großer Stein, der am Wege lag. Wie kam er aber bei
seiner Größe und Schwere an diese Stelle? Diese Frage erregte die Gemüter des Volkes, und es kam zur Sagenbildung. Eine davon, die vom sogenannten
"Mühlvaltenstein", sei als Beispiel erzählt (Heusinger "Sagen aus dem Werratal", S. 9):
Valentin, der gutmütige Knecht, fuhr aus der Herrenmühle bei Gerstungen täglich mit seinem Mehl nach Neustadt, nachdem die Mühle an der Steinau wüst
geworden war. Unterwegs bedauerte er die müden Wanderer, lasttragenden Boten und kötzentragenden alten Mütterchen, die keine Gelegenheit hatten, an dem
sandigen Wege auszuruhen oder ihre Last abzusetzen. Eines Tages begegnete ihm unterwegs eine arme Witwe mit einer schweren Bürde. Valentin redete sie
freundlich an und bedauerte sie wegen der schweren Last. Als sie ihren schweren Rückenkorb absetzen wollte, sank sie mit einem Klagelaut hintenüber. Der mitleidige
Valentin lud sie auf seinen Wagen und fuhr sie nach Haus. Als er wieder auf dem Heimweg an der Unglücksstelle vorbeikam, nahm er sich vor, dort einen Stein
hinzusetzen, damit man sich ausruhen konnte. Er dachte dabei an den Grundstein der Steinauer Mühle, von dem man erzählte, daß er sich wie ein Kreisel herumdrehe,
sobald man die Hand an ihn legen würde. Sechs Pferde konnten ihn nicht fortbewegen, als man ihn einst zum Bau einer neuen Mühle wegholen wollte. Als Valentin auf
dem Rückweg in der Dämmerung mit einem beherzten Kameraden nach der alten Mühle kam, gewahrten sie bald den fraglichen Stein. Geduldig ließ er sich von den
beiden auf den Wagen wälzen, und es war ihnen, als ob unsichtbare Hände geholfen hätten. Eben wollten sie abfahren, da stand auf einmal eine weißbestaubte Gestalt
bei ihnen und winkte freundlich zur Abfahrt. Es war der Geist des alten Müllers von Steinau. Bald lag der Stein ruhegerecht an der beabsichtigten Stelle. Schnitter,
Lastträger, Ackersleute haben seitdem Ruhe darauf gefunden. Auch in Zukunft werden noch viele den Stein dankbar benutzen, und der Name des guten Valentin wird
durch die Benennung "Mühlvaltenstein" der Nachwelt für alle Zeiten erhalten bleiben."
Leider ist dieser Stein, der dazumal unter drei Linden stand, bei der Verbreiterung der Straße zerstört worden.
Es wäre interessant zu erfahren, ob noch andere oder ähnliche Gebilde in der Werralandschaft vorhanden waren oder noch vorhanden sind, die gleichen Zwecken
dienten, wie dargestellt wurde. Der Verfasser wäre für diesbezügliche Hinweise dankbar.
(Das Werraland, 1969, Heft 1, S.7-9)
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