"Steinkreuze als Aechterkreuze"
Man schreibt der Frankf. Ztg.: Von den bisher von der Altertums- und Denkmalpflege wenig beachteten geheimnisvollen verwitterten
Steinkreuzen, die noch häufig an alten Heerstraßen, aber auch an jetzt abgelegenen Plätzen stehen, bezeichnen viele gewiß die Stelle einer schweren
Bluttat, die Grenze eines früheren Stadtgebiets, die Lage eines
Richtplatzes, oder nach neueren Forschungen, eine
Freistätte, die einem verfolgten Angeklagten oder
dem bedrängten Leibeigenen ein geheiliges Asyl gegen Uebergriffe und Gewalt der Mächtigen bot. Manche dieser alten Kreuze dienten aber noch in einem
anderen Sinne als Symbol und Mittel der landesherrlichen und ganz besonders der reichsstädtischen Gerichtsbarkeit; sie bezeichneten nämlich die äußersten
Grenzen, bis zu welchen sich ein "auf ewig" oder auf bestimmte Frist aus der Stadt Verbannter den Stadtgebiete
nähern durfte. Den Stadtverweis kennen wir noch heute als eine auf richterlichem Erkenntnis beruhende Polizeimaßregel
zur Verhinderung der Fortsetzung verbrecherischen Treibens an einem bestimmten Ort. Die Verbannung durch das athenische Scherbengericht oder durch ähnliche
Gerichte aus anderen antiken Stadtstaaten ist als Form einer politischen Vorsorge gegen Erschütterungen des Staatswesens,
die der Einfluß reicher, begabter und energischer Staatsmänner oder Parteiführer hervorzurufen drohte, ebenfalls allgemein bekannt. Das Mittelalter kannte diese
Verbannung aus politischen Rücksichten ohne Schmälerung der persönlichen Ehre und ohne Vermögensnachteil nicht. Der Verbannte ging, auch wenn sein Vermögen
nicht zugleich eingezogen wurde, seines Bürgerrechts verlustig. Diese Verbannungsart, die aus einzelnen germanischen Stammesrechten, besonders aus der
fränkischen Rechtsordnung vom späteren Mittelalter übernommen und in ihrer Geltung durch den Einfluß des römischen Rechts noch befestigt wurde, ist als
empfindliche Freiheitsstrafe z.B. von den Reichsstädten gegen eingeborene Bürger
noch bis in die neuere Zeit herein angewandt worden. Es bestimmte eine "Ordnung" der kleinen Reichsstadt Gengenbach im Thal der badischen Kinzig, dass ein
Verbannter "in einer mil (Meile) wegs nit schloffen, in einer halben mil nit essen" dürfe. Diese Ordnung stammte, wie wir einer Arbeit von
K. Hellinger (Konstanz) in den eben erscheinenden Mitteilungen des historischen Vereins für Mittelbaden ("Die Ortenau", 1.
und 2.Heft, Offenburg i.B.) entnehmen, noch aus dem 15. Jahrhundert und blieb bis ins 17. Jahrhundert in Geltung. Eine Aechtermeile
wurde für den ganzen Umkreis der Stadt von den Aechterkreuzen an gerechnet, die da aufgestellt waren, wo die aus
verschiedenen Richtungen kommenden Straßen in das Weichbild der Stadt eintraten. Eine Aechtermeile weit entfernt waren von Gengenbach aus die alten Reichsstädte
Zell am Harmersbach und Offenburg und die Dörfer Hofweier und Durbach, der bekannte Weinort. Die Kleinheit des reichsstädtischen Gerichtsbezirks, der sich über die
Stadt hinaus nur noch auf mehrere Dörfer und Höfe erstreckte, die heute in fünf Gemeinden zusammengefasst sind, hat es genügt, dass von diesen Aechterkreuzen
heute noch drei in geringer Entfernung voneinander erhalten sind; sie wurden in letzter Zeit in anerkennenswerter Weise von einem Freund der Denkmalpflege freigelegt
und ausgebessert. Die Kreuze sind niedrig, kaum einen Meter hoch, und roh behauen; eines zeigt am Kopfende die Buchstaben MCG (Magnistratus Civitatis
Gengenbacenisis) und auf dem Querbalken die Jahreszahl 1582; im unteren Teil des Kreuzesstammes ist ein schwach gekrümmtes Schwert,
als Zeichen der hohen Gerichtsbarkeit eingemeißelt. Es mag ausdrücklich bemerkt werden, dass das Kreuz aber nicht auf
dem ehemaligen Richtplatz steht. Ein anderes derartiges Kreuz, das an der Grenze des Gebiets der ehemaligen Reichsstadt Offenburg gegen das Dorf
Rammersweier
zu noch erhalten ist, befindet sich zwar in der Gegend der einstigen Richtstätte, die auch am nordöstlichen Ende des Stadtgebietes lag, ist aber doch fast einen Kilometer
von ihr entfernt. Das auf dem Querbalken eingemeißelte Doppelbeil zeigt mit der einen Schneide direkt nach der Stadt, die die Gerichtsbarkeit ausübt, während es mit der
anderen den Verbannten von ihr und ihren Grenzen wegweist. Ganz ähnliche Kreuze habe ich in der Gegend von
Konstanz, Ueberlingen und Pfullendorf
gefunden, und es kann keinen Zweifel unterliegen, dass auch sonst noch manche andere der erhaltenen geheimnisvollen Kreuze in der gleichen Weise als
Aechterkreuze zu deuten sind. - Dr. A.B.
(Nürnberg-Fürther Ausflugs- und Sportzeitung, Nr.18 vom 10. Mai 1911, S.2-3)