Volksaberglaube & Brauchtum


zur Übersicht

Reisichthäufung in Nieder-Österreich.
Von Marie Eysn

Zum toten Weib

Zum toten Mann

   Die österreichische Generalstabskarte zeigt im Donauthal, südwestlich von Mautern, dem allen Mutinum, das Zeichen einer Kapelle und dabei steht "Zur todten Frau", unweit davon "Beim todten Mann". Im Volksmunde heisst es, dass an letzterer Stelle ein Ehepaar von Räubern angefallen und der Mann erschlagen wurde, das Weib aber habe gebeten, man möge es nur noch eine kleine Strecke weiter gehen lassen, bis sie die Wallfahrtskirche Maria Langeck sähe, dann wolle sie ruhig sterben.
   Steigt man von Oberbergern den Waldweg hinan, so erreicht man nach ungefähr ¾ Stunden eine alte Kapelle, unter hohen Tannen, deren Inneres von kleinen Votivbildern ganz, bedeckt ist. An der Wand neben dem Altare hänger wächserne Körperteile und Figuren und in den Ecken lehnen gebrauchte Krücken, welche die Genesenen in das einsame Heiligtum gebracht haben. Das kleine Türmchen trägt eine Glocke, die eine Leine, welche ausserhalb der Kapellenthür herabhängt, in Schwingung versetzt. Die Vorübergehenden ziehen an diesem Strick.
   Unfern der Kapelle öffnet sich ein weiter Ausblick über das waldige Gehänge und das Donauthal mit der Kirche von Langeck, und 600 Schritte von der Kapelle gelangt man in Mitte des jungen Tannwaldes zu einer alten Buche, deren Rinde zahlreiche Buchstaben, das Monogramm Christi, Herzen mit drei Nägeln und dergl. eingeschnitten zeigt. Heiligenbilder hängen an ihrem Stamme und unter ihrem Laubdach erhebt sich ein mächtiger Reisichthaufen, "beim todten Mann". Jeder Vorübergehende legt einen Zweig hinzu. Die Zweige liegen fast sorgsam geschichtet, alle mit der Spitze in gleicher Richtung: man findet sie vom frisch gepflückten bis zum fast vermoderten Rest. Fragt man nach, warum dieselben hingelegt wurden und werden, so erfährt man, es sei ein unheimlicher, ein "entrischer" Ort und "das sei guat dagegen", d.h. es schütze gegen die bösen Geister, die dort hausen. Zum selben Zweck zieht jeder Vorübergehende an dem Glockenstrick der Kapelle, denn "Glockenton hält böse Geister ab und Gespenster aller Art werden durch Läuten vertrieben werden" (Sartori in der Zeitschrift d. Vereins für Volkskunde VII, 385).
   Unter dem Reisichthaufen liegt der Ermordete. Uralte bei unzähligen Völkern herrschende und noch lebende Sitte verlangte, dass kein toter Körper unbedeckt gen Licht und Luft liegen bleibe. Darum ward Erde über ihn geschüttet, oder ein Zweig oder ein Stein über ihn gelegt, bis sich ein Reisicht- oder ein Steinhaufen, der immer höher wächst, aufhäufte. Die fromme Sitte ward genährt durch den Glauben, dass die Seele des Toten durch die lastende Bedeckung festhalten und gehindert werde, den Lebenden zu schaden, wenn sie etwa wolle.
   Über diese Reisicht- und Steinhäufungen an Mordstellen berichten u.a.:
R. Andree, Ethnograph. Parallelen, 46-88.
Liebrecht, Zur Volkskunde, S. 267ff.
K. Weinhold, Altnordisches Leben, 474ff.
Krauss, Mitteil d. Wiener Anthropol. Gesellschaft 1885.
Verhandl. d. Berl. anthrop. Gesellschaft 1894, S.254.
Ztschr. f. Ethnol. 1988, S.288. 1893, S.282.
Zeitschr. f. Völkerpsychol. XII, 239, 309. Zeitschr. f. österr. Volksk. I, 296. III, 3.
Urquell I, 121. IV, 15, 53, 173. V, 235. VI, 220.
Schwally, Leben nach dem Tode nach den Vorstellungen des Judentums, S.52f.
Priklonski-Krauss, Schamunentum der Jakuten 1887.
0. Baumann, Durch Massailand zur Nilquelle, 207.
(Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, 8.JG., 1898, S.544-456)

nach oben


Sühnekreuze & Mordsteine