Hoch über der Welt waltete ein unabänderliches Urgesetz, das Schicksal (ahd. urlac, ags. orläg, alts. orlag,
orlegi, altnord. örlög), dem selbst die Götter unterworfen waren, dem Baldrs jugendliches Leben zum Opfer fiel. Die Verkünderinnen dieses Schicksals sind drei hehre
Göttinnen, ehrwürdige Jungfrauen bei den Angelsachsen Mettena, d.h. die abmessenden, abwägenden, oder Vyrdha
alts. Wurthȋ, im Norden Nomen d. h. die tötenden (?) genannt. Sie spinnen einen Faden und weben ein Gewebe, an
welches das Leben, das Wolergehen und der Tod der Menschen geknüpft ist.
In dem feinen Gespinnst des Spätsommers erkannte man die Abbilder der Parzengespinnste. Daher heiszt dasselbe Mädchensommer,
Alteweibersommer, und in Holstein sagt man, wenn das ganze Feld wie mit tausend und aber tausend Spinnweben überzogen
ist: "Die Metten haben gesponnen." In Baiern haben sich zahlreiche Sagen von den drei Schicksalsgöttinnen erhalten. Sie
heiszen hier Heilrätinnen, d.h. Wesen, die das Glück der Menschen beraten, beherschen. Zwei von ihnen sind gut und
freundlich: kreideweisz ist die eine, die andere trägt ein rot und weiszes Kleid. Die dritte Schwester aber ist böse und furchtbar. Sie heiszt Held
(d.i. Umhüllung, Umnachtung; der Name ist mit Hella verwandt). Von Körper erscheint sie ganz schwarz (nach andern halb
weisz, halb schwarz wie Hel); aus ihrem grimmigen Antlitz blicken zwei feurige Augen hervor. Die beiden guten Jungfrauen
haben zwei Köpfe und einen Sinn, die dritte aber fügt sich niemals in ihren Willen. Auf dem Jungfernbühel bei Unterigling in
Niederbaiern, an dessen Fusze ein Weiher und ein groszer Forst "der Frauenwald"
liegt, sollen die drei Jungfrauen ihr Schloss gehabt und vor uralten Zeiten den benachbarten Dorfgemeinden grosze Holzungen, die noch in deren Gesammtbesitz sind,
durch Stiftung geschenkt haben. Die guten Jungfrauen spannen ein heilbringendes Gespinnst. Bis in's vorige Jahrhundert wurde Leinwand aufbewahrt, welche von ihnen
herrühren sollte; man gab davon jeder Wöchnerin ein handgroszes Stück, worauf sie sich legte, um schmerzlos zu gebären. Held aber fertigte ein sehr gefürchtetes
Seil, an welches sie die Menschen band und mit Hilfe der Schwestern an sich
zog. Zur Erntezeit opferte man den Heilrätinnen drei Kornähren. An anderen Orten wird erzählt, wie die drei Jungfrauen bei Taufen
und Hochzeiten und Begräbnissen sangen. Der Gesang der weiszen Schwestern
bedeutete Glück für das neugeborne Kind oder die aus dem Elternhause schreitende Braut, die dritte böse Jungfrau aber war den jungen Kindern immer entgegen. Jede
der Jungfrauen hatte einen Rocken an der Seite hängen, sie spannen Flachs mit der Spindel. Von einem Berge zum andern spannten sie Seile;
oft warfen sie schöne Gewebe hoch in die Luft, wo dieselben hängen blieben, ohne herunterzufallen. Die Menschen erwarteten dann gutes
Wetter. In Straszburg und vielen Gegenden von Baiern und Tirol hat sich die Sage von den drei Jungfrauen sammt alten Namen oder Beinamen derselben in die
Legende geflüchtet. Das Volk zählt sie als Sanct Wilbetta, Sanct Walbetta und
Sanct Einbetta (ahd. Wilipëta, die Gutes anwünschende, Walpëta, die Krieg anwünschende, Ainpëta, die
Schrecken an wünschende) zu seinen Heiligen, von denen freilich die Kanonisationsregister der Kirche nichts wissen. Sie wohnen in einem Kloster auf einem Hügel, der
ganz von Wasser umgeben ist oder neben einem Heilbrunnen liegt, spinnen, verleihen Kindersegen und sind Pestpatroninnen. [...]
[...] Auf sächsischem Boden führte die Schicksalsgöttin auszer der Benennung Metten den Namen altsächs. Wurth,
angels. Vyrdh (d.h. das Gewordene, die Vergangenheit). Sie wird geschildert, wie sie urplötzlich dem Menschen zu Händen
steht und mit ihren Krallen (d.h. Todesstricke. Dieselben wurden in unserm Altertum aus Weiden geflochten) in den Tod dahinreiszt (nimedh, farnimid). Kampfgrimm (välgrim)
schreitet die Vyrdh selbst in die Schlacht, um die dem Tode bestimmten Männer auszusuchen. Man scheint die Vorstellung gehabt zu haben, dass die tötende
Schicksalsgöttin selbst ihrem Opfer einen Speer oder spitzen Nagel in den Kopf treibe und es so in ewigen Schlaf versenke. Eine Erinnerung daran lebt in unsern
Märchen in der alten spinnenden Frau fort, welche Dornröschen mit ihrer Spindel sticht und dadurch in hundertjährigen Schlaf fallen macht, sowie in der Alten, welche
Schneewittchen eine Blume oder einen Kamm in das Haar steckt, worauf das holde Kind tot umfällt. Vyrdh webt aber auch ein todbringendes Gewebe.
Daneben hatte sich eine höhere Auffassung erzeugt, wonach die Vyrdhen als Beisitzerinnen dem Göttergericht beiwohnten
und als Schöffinnen das Urteil aussprachen, welches als von Ewigkeit und Uranfang an gelegte Satzung (orläg, orlegi) jedem Menschen zukomme. Man nannte eine
solche Tätigkeit der Beisitzer in den germanischen Gerichten urteilen, schaffen
(daher das Wort Scheffe, Schöffe). Man hiesz daher die Schicksale "Vyrdha gesceaft, Wurdigiscapu" (der Vyrdhen Urteil, Schöpfung) und sprach vom Ding oder Gericht
der Vyrdhen. Auch in Oberdeutschland scheinen die Schicksalsjungfrauen zu dieser höheren Auffassung gediehen und Gâchschepfen
(die jähen Schöffen) genannt gewesen zu sein. [...]
[...] Sehr deutlich können wir in den mannigfachen bisher betrachteten Vorstellungen von den deutschen Parzen die folgende Entwicklung
beobachten. An die bald nächtige, bald lichte Wolke schloss sich die Idee des Todes und Lebens, des Schicksals. Aus der Zahl der spinnenden, webenden
Wolkenfrauen traten drei Schicksalsmädchen als Göttinnen der Geburt, der Heirat, des Sterbens, darnach des Geschickes überhaupt hervor. Sie wurden bei weiterem
Fortschritt Urteilerinnen am Göttergericht und schlieszlich fasste sie das ersterbende Heidentum als abstracto Persouiticationen der dreigeteilten Zeit. Dieselbe
Entwickelung hatte derselbe Mythenkreis in Skandinavien durchzumachen.
Unsere nordischen Stammverwandten nannten die Schicksalsjungfrauen Nornen d.h. wahrscheinlich
die tötenden Göttinnen; Urdhr Vergangenheit (nach Namen und Begriff die deutsche Wurth, Vyrdh) heiszt die älteste,
Verdhandi Gegenwart die zweite; und Skuld Zukunft die jüngste von ihnen. Aus
dem See unter dem alles überschattenden Weltbaum, der Esche Yggdrasill sind diese vielwissenden Mädchen
hervorgestiegen. Da sitzen sie nun zwischen der Esche Zweigen, oder an ihrem Fusze, und hüten den Lebensborn, der unter einer der drei Wurzeln des Baumes liegt
und nach Urdhr den Namen Urdharbrunnen trägt. Mit seinem heiligen Wasser begieszen sie Tag für Tag den Weltbaum,
der davon immergrün in ewiger Jugend prangt. [...]
(Mannhardt, Wilhelm - Die Götterwelt der deutschen und nordischen Völker, Berlin 1860, S.321-326)