Beiträge zur Geschichte der Steinkreuze


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Steinkreuze im Volksglauben
von L. Wittmann, Nürnberg

Ueber den Aberglauben und Hokuspokus, welcher in früheren Jahren mit den alten Flurdenkmälern und Steinkreuzen getrieben wurde, dürfte im allgemeinen so gut wie nichts bekannt sein, und doch bietet sich hier dem Volkskundler ein reiches Feld der Betätigung. Meine Ausführungen werden nicht imstande sein, den ganzen Bestand restlos zu erfassen, nur ein Hinweis auf den aufgespeicherten Reichtum soll hier gegeben werden.

Es ist ja hinlänglich bekannt, daß jede Art von Zauberei und sonstiger abergläubischer anderer Handlungen immer gerne unter erschwerenden Umständen auszuführen gewesen sind, schon zu dem Zweck, damit ja nicht so leicht solch ein vermeintliches Kunststück gelinge. Entweder nahm man hierzu große öffentliche Plätze, an welchen man "ungesehen" etwas vollbringen musste, oder man nahm die Furcht des Einzelnen als erschwerendes Moment oder aber, man nahm Sachen, welche eine hohe kultische Bedeutung hatten, wie etwa Hostien, oder das Kreuz.

Das Kreuz und sein Zeichen an sich selbst waren ja im Mittelalter am meisten in Gebrauch zu abergläubischen Handlungen. Ihm am nächsten kam dann wohl der Kreis. Dem Kreuz wurde vor allem seine übernatürliche Kraft gegen alles Böse zur Hauptstütze in solchen Dingen, aber auch seine Heilkraft duldete keinen Widerspruch. Wir wissen ja alle noch selbst mehr oder weniger, daß das Brot mit einem Kreuz gesegnet "viel länger reicht" oder, das das C † M † B † an der Stubentür den Bösen abhält, und anderes mehr. Dies alles mag uns aber heute nicht beschäftigen, sondern nur die Steinkreuze für sich allein.

Warum ging wohl so großer Aberglaube gerade um die Steinkreuze? Nach meiner Ansicht nur deshalb, weil diese Stine schon von jeher mit dem Geister- und Totenkult zusammenhingen, und alles was Angst einflößte - und dies waren in hervorragendem Maße die Toten - war zur Zauberei am besten geeignet. Die "Friedhofsangst" zu überwinden, war das beste Mittel zu allen Zeiten, eine Sache gut hinausgehen zu lassen. Da fällt mir eben ein, daß man im Beyerischen Wald die Totenbretter doch sicher mit am allermeisten schätzt und ehrt, aber nicht einmal diese unheimlichen, armseligen Dinge hatten Ruhe vor der allumfassenden Volksmedizin und vermeintlichen Zauberei, denn wenn dahinten im Wald ein Bauer von irgendeiner Kuhhaut die Haare lösen wollte auf leichte Art, dann nahm er ein Totenbrett dazu. Eine alte Formel des 15. Jahrhunderts empfiehlt:
"Willtu ain laug machen darvon ain haur abgaut, so nem die totten bretter und brenn die aschen".

Wenn man also schon vor diesen Dingen nicht halt machte, wie vielmehr dann vor den viel harmloseren Steinkreuzen. Ist doch ein solcher Stein schon von "Kindsbeinen" an dazu da, um mit der Geisterwelt in Verbindung zu stehen, denn hier haben wir den letzten Rest eines uralten Glaubens, nach welchem ein eines gewaltsamen Todes Gestorbener noch ganz besonders auf die Hinterbliebenen wirken und ihnen sogar schaden kann. Deshalb erhielten diese Art ums Leben Gekommenen einen besonderen Toten- und Heroenkult. Hat nämlich der Ermordete sein Recht nicht bekommen, d.h., ist, was germanische Anschauung verlangte, die Blutrache nicht ausgeführt worden, so irrt der Geist des Erschlagenen ruhelos und zürnend umher. Nur durch einen Seelenkult - abgeschwächt durch ein Sühnekreuz oder ein Opfer - kann sein Groll beschwichtigt werden. Gelegentlich herrscht heute noch der Brauch, an einem solchen Kreuz einen Zweig niederzulegen, manchmal auch einen Stein, das heißt man dann "der Hex ein Opfer bringen". Die Zerstörung eines Kreuzes kam noch vor Grabschändung, denn Abbrechen oder Zerstören eines Steinkreuzes brachte den Tod. An solch einen "Fall" erinnert noch heute das abgebrochene Steinkreuz von Tennenlohe (siehe die Abb.), dieses Kreuz wurde im Jahre 1900 von einem Bauern abgebrochen, der sich dann einbildete, daran sterben zu müssen, im selben Jahre wurde er auch ernstlich krank und starb.

Wenn also jemand soviel Mut oder Verzweiflung aufbrachte, mit den Substanzen einen Kreuzes seinen Zauber auszuführen, so mußte dies schon ein ganz robuster, vor nichts zurückschreckender Mensch sein. Freilich, im Wandel der Zeit verblaßte das ursprünglich Grausige von den Steinkreuzen ganz bedeutend, sonst könnte es nicht sein, dass Steinkreuze in der Volksmedizin Gebrauch gefunden hätten.

So wird z.B. bei Zahnschmerzen empfohlen, in ein Steinkreuz zu beißen; dabei wird sich dann so mancher seinen letzten hohlen Zahl ausgebissen haben.

Des öfteren kann man auch an den Kreuzen kleine, kreisrunde Löcher bemerken, oft in einer ganz erklecklichen Anzahl beisammen. Hier hat man "heilbringenden" Staub ausgekratzt, der für alles mögliche gut war. Besonders für die Pest.

Bei inneren Krankheiten verschiedener Art war ein Stück Steinkreuz gut, das in mitternächtlicher Stunde abgeschlagen werden, unbeschrieen nach Hause gebracht und dem Kranken aufs Herz gelegt werden mußte.

War einer bezaubert worden (geisteskrank, verliebt), so war auch hiezu das Steinkreuz ein Allheilmittel, denn: "So einer bezaubert wurde, der gehe zu einem Creuz auf dem Felde, da einer erschlagen worden, gehe 3 mal links herum in den Drei höchsten Nahmen, dann schlag ein Stück vom Creuz, wirf dasselbe in ein fließend Wasser und sprich:
"Ich werf dich in diesen Fluß
damit mir alle Zauberey und Unglück hinwegfließe
und müsse bestahn
der mir solches angethan".
Zur Beschwörung der Geister wurden ebenfalls Steinkreuze gerne aufgesucht. Davon leitet sich wohl so mancher Name her wir etwa "Horchstein". Am Heiligen Abend geht der Bauer zu einem Steinkreuz, macht um dasselbe drei Kreise mit der Haselrute, an der noch die Kätzchen sich befinden müssen. In diesen drei Kreisen verharrt er dann knieend der Dinge, die kommen sollen. Er erwartet, daß ihm hier zur Mitternachtsstunde das kommende Geschehen im Jahre offenbar wird, er "horcht" ins kommende Jahr.

Dass diese alten Mäler böse Wetter abhalten sollen, dürfte allgemein bekannt sein. Der Name "Wetterkreuz" ist ja auch noch ziemlich häufig und weist ohne weiteres auf die ursprüngliche Bestimmung und Verwendung des Steines hin; daß man diese Wetterkreuze aber des öfteren mit einer Hand versehen hat (St. Anna-Hand), ist wohl nur eine Hypothese, die noch zu beweisen ist. (St. Anna ist eine Wetterheilige.) Im Bambergischen bittet man die Mutter Anna:
"Heilige Mutter Anna
treibs Gwitter von danna,
treibs nei in Wold,
daß kan Schadn net nut
für die vieln Leut".
In der Nacht vom Karsamstag auf Ostersonntag herrscht ein gar eigenartiger Aberglaube, besser gesagt "Brauch", bei diesen armseligen Denkmälern im Wald und Feld. Da gehen die Frauen der Dörfer noch vor Aufgang der Sonne zu drei sogenannten "Weg"- oder Steinkreuzen. Nachts um 2 bis ½3 Uhr verlassen sie ihre Behausungen, stillschweigend und ruhig; denn niemand soll sie hören oder ansprechen. Ihr Weg führt zu einem Wegkreuz; sieben "Vater-unser" und ein Ablaßgebet sind zu beten. Hierauf bringen sie ihre Herzenswünsche dem Heiland dar. Diese Wünsche sollen dann im Laufe des Jahres in Erfüllung gehen. (Letzter Rest des Ahnenglaubens!)

Drei solcher Stein- oder Feldkreuze müssen besucht werden, und es kommt oft vor, daß 10 bis 20 Frauen lautlos an einem Kreuz zusammenkommen. (Die Rolle, die Kreuzwege im mittelalterlichen Volksglauben als Sammelpunkte von Hexen spielen, dürfte auf eine Mißdeutung dieses Brauches zurückgehen!) Führt der Heimweg über einen Bach, über den Freud und Leid gehen (Taufe, Hochzeit, Tod), so werden Gesicht und Hände gewaschen. Das soll gegen Ausschlag helfen.

Dieser Brauch soll an den Gang der Frauen am Ostermorgen nach dem Grabe Jesu in Jerusalem erinnern, zweifellos dürfte aber die ursprüngliche Sitte eine andere, ältere gewesen sein und ist durch eine christliche ersetzt worden.

Sehr sonderbar mutet es immer an, daß man bei allen diesen Handlungen niemals angesprochen oder gesehen werden darf. Ich schreibe diesen Umstand einem alten Verbot zu. In älterer Zeit, bei Einführung des Christentums, wurden alle diese heidnischen Bräuche verboten. Die Menschen aber hingen mit größter Zähigkeit an ihren Bräuchen. So wird man die stille Vereinbarung getroffen haben, daß der eine den anderen eben nicht mehr sieht und wenn er ihn sieht, ihn nicht anspricht (also ihn absichtlich "übersieht"). Er konnte sich dann, bei irgendwelchen Verwicklungen mit der Geistlichkeit oder der Obrigkeit herausreden. Wenn man bedenkt, wie lange Jahre gute Freunde zusammenlebten und dann durch die neue Religion vielleicht getrennt wurden, in wirtschaftlicher Beziehung aber doch aufeinander angewiesen waren, so wird diese Rücksichtnahme verständlich. Aus dieser Gepflogenheit kann sich die Vorschrift des "Nicht-gesehen-werdens" entwickelt haben.

Wo ließe sich die Sache wohl noch länger fortführen, es möge aber dies wenige einstweilen genügen; nur zum Schluß sei noch ein fast rührender Aberglaube, der sich ebenfalls an alte Steinkreuze und Grenzsteine hängt, in Erinnerung gebracht:
Es ist am ersten Tag in der Schwarzbeerenernte, wenn die Kinder mit vollen Körben den Wald verlassen, dann gehen sie "opfern". Jedes Kreuz oder jeder Grenzstein auf dem Heimweg wird mit den größten und schönsten Beeren, die man gefunden hat, bestrichen, zum Dank für die reiche Ernte in diesem Jahr, und zugleich als Bitte, daß auch im nächsten Jahr der Wald wieder sehr ertragreich sein möge. Dabei will das eine Kind das andere im Laufe überflügeln bis zum nächsten Stein. Die Opferung selbst wird von jedem Kind in weihevollem Schweigen vollzogen. Diese Opfer sind wohl noch die letzten Nachklänge der alten Menhiropfer und dürften deshalb ein wirklich "uraltes" echtes Opfer darstellen.

Literatur: "Oberpfalz" 1908 Heft 10, 1916 Heft 5 u. 6.
"Fränkische Monatshefte" 1925, S. 437-438.
Hofmann / Krayser: "Handwörterbuch des Aberglaubens", Berlin 1928, Bd. 1, S.1903, 1018.
Pfister: "Schwäbische Volksbräuche, Feste und Sagen", Augsburg 1924.
K. Bartsch: "Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg", Wien 1879/80, 2 Bände.
Hartland: "Perseus", London, Bd. 2, S. 166, 1894/96.
Dr. Fr. Losch: "Segens-, Heil- und Bannsprüche", Berlin.
Korrespondenzblatt d. Ges. Ver. d. Deutsch. Gesch.- u. Altertumsvereine 1918, Nr. 3/4, S.77.
Fritz Stremel: Manuskripte 1931.
C. Frank: Deutsche Gaue, Bd. 10, Kaufbeuren und meine persönlichen Aufzeichnungen.
(Quelle: L. Wittmann, in: Das Steinkreuz 2, 1934, Heft 2, S.2-6)

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Heilige Steine und Viehkrankheiten
von K. Th. Ch. Müller

Im März-April-Heft 1924 von "Volk und Scholle" findet sich eine Mitteilung "Wie Bildstöcke verschwanden". Ein Bildstock, der vor König i.O. stand, wurde auf Anordnung des Grafen Magnus von Erbach ausgegraben, in kleine Stücke zerschlagen und in die Mümling geschüttet, weil er gehört hat, was die Untertanen zu König "vor hochsträfliche Abgötterei und schändlichen Mißbrach des allerheiligsten Namens Gottes mit und bey dem steinern Bildstock, so vor dem Dorfe an der Straße stehe, treiben, indem sie in der Opinion und Permasion stehen, wann ihnen Pferde oder Vieh krank werden und sie dieselbe um berürten Bildstock im Namen der heiligen Dreifaltigkeit herumführen und dann ein Stücklein von demselben herabschlagen, klein verstoßen und es dem kranken Vieh eingeben, daß es demselben wieder zur Gesundheit helfe." Der Vorgang spielte sich im Jahre 1608 ab.

Von demselben Aberglauben meldet uns ein anderer Vorgang, der in Oberhessen spielt. In einem Protokoll über die Besichtigung der Landesgrenzsteine zwischen dem hochfürstlichen Hessischen und dem Hochgräflich Ortenbergischen Haus vom 24. Juli 17881) findet sich ein Eintrag über die mißbräuchliche Benutzung eines Dreiherrensteins. Der Eintrag lautet: "An dem Schwarzwald ohnfern Glashütten und Steinberg wurde der abgeschlagen gewesene und blos mit seiner Wurzel noch gestandene mit Hessen-Darmstadt, Stolberg-Gedern und Stolberg-Ortenberg gemeinschaftliche Dreiherrenstein in Gegenwart meiner des Beamten zu Nidda (es war der Amtmann Hofmann), der Herren Oberförster Hof und und Neidhard von Zwiefalten und Rudingshain, sodann des Herrn Förster Schmidten zu Burkhardts, des Fürstlichen Schulteisen Repp und Vorstände zu Glashütten, wie nicht weniger in Gegenwart der Herrn Amtsraths Heinrichs und Herrn Oberförster Kratz von Gedern, wie auch mehrbesagten Herrn Cabinets-Secretaire Ruhlmanns und Herrn Förster Bussen von Hirzenhain, von den geschworenen Landmessern, deren von Seiten jeder Herrschaft zugegen waren, neu gesetzt, zugleich aber auch verordnet, daß, weil dieser Stein in einem Menschenalter schon dreimal renoviert werden müssen /: welches daher kommt, weil abergläubische Menschen in der Meinung stehen, die Dreiherrensteine wirkten bei Viehkrankheiten, wodurch dieselben verschlagen und mißhandelt werden :/ eine dauerhafte und wohlverwahrte Einfassung von Eichenholz um denselben gemacht werden soll."

Das Eichenholz stellte Gedern; in den Holzwert und den Arbeitslohn, der 3 fl. betrug, teilten sich die 3 Parteien. - Der fragliche Dreimärker - ein dreiseitig behauener Stein - steht heute unversehrt am Zusammenstoß der Gemarkungen: Burkhards und Glashütten (Hessisch), Gedern (Stolberg-Gedern) und Steinberg (Stolbereg-Ortenberg), macht aber einen ganz neuen Eindruck. Zweifellos ist er seit 1788 wieder erneuert worden, während sich die gewöhnlichen alten Landesgrenzsteine in großer Zahl über 300 Jahre unversehrt erhalten haben. Auffallend ist es, daß auch andere Dreiherrensteine, so einer zwischen den Gemarkungen Ober-Moos, Bermuthshain und Lichenroth (Riedesel-Hessen und Isenburg) am Königsborn und ein anderer zwischen Hartmannshain, Volkartshein und Volzberg (Hessen, Stolberg und Isenburg) um dieselbe Zeit ebenfalls erneuert werden mußten. Der Aberglaube der heilkräftigen Wirkung des Steinmehls eines Dreiherrensteins bei Viehkrankheiten scheint also noch um die Wende des 18. Jahrhunderts im Vogelsberg verbreitet gewesen sein. Den Dreiherrensteinen wurde demnach von der Bevölkerung eine ganz besondere Bedeutung beigelegt, sie galten als heilige Steine.2)

Wer sich für alte Wappensteine interessiert, dem sei ein Gang empfohlen auf der alten Lißberger Straße, die am Friedhof vorüber über das Höchst zieht und sich in der Gemarkung Glashütten mit der alten rechtsseitigen Nidderstraße vereinigt. Der Weg führt zu unserem Dreimärker.
Darmstadt K. Th. Ch. Müller.

Literatur:
1) Akten des Staatsarchivs zu Darmstadt, Abt. XIII, 1. Conv. 32.
2) Vgl. J. Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, 4. Afl. II, 75.

(Volk und Scholle, 4. Jg. 1926, H. 12, S.380)

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Steinmehl als Mittel der Volksmedizin
von Heinz Bormuth

An der Neudorfer Steige, in der Gemarkung Amorbach-Neudorf, steht der Torso eines Bildstocks, von dem die Volkskundlerin Gotthilde Güterbock (1906 -1992) schreibt: Dieser war noch vor 30 Jahren so weit erhalten, daß Max Walter (1888-1971) seine Widmungsinschrift aufnehmen konnte. Heute ist er nur noch ein Stummel. Ganzen Generationen von Schneeberger Kindern mußte er durch Abgabe von Steinstaub das Zahnen erleichtern und überdies noch bei zunehmendem Monde zu nächtlicher Stunde jungen Mädchen Warzen von den Händen vertreiben.1)

Dem Aufsatz war eine lebhafte Diskussion über die Bedeutung von Wetzrillen an sakralen und profanen Steinmalen vorausgegangen, die ein Leser der Zeitschrift "Der Odenwald" mit einem Bild von derartigen Rillen am Wormser Dom ausgelöst hatte.2) Zahlreiche Hinweise, die auf diese Veröffentlichung eingingen, beurteilten die Rillen und Näpfchen recht unterschiedlich. Ein bekannter Genealoge und Heraldiker aus Darmstadt schrieb: Die Waffenträger pflegten vor dem Auszug zum Kampf ihre Schwerter und Hellebarden dort zu wetzen, um ihnen Erfolg und glückliche Heimkehr zu sichern.3) Diese Erklärungstheorie war damals weit verbreitet. Andere Forscher hatten jedoch für die Rillen, die sie vorwiegend an den Brauttüren der Kirchen sehen wollten, eine andere Erklärung: Bei der Eheschließung zog der Bräutigam sein Schwert und wischte es an den Stein als Weiheakt für unverbrüchliche Ehetreue. Als Quelle verwies man dabei auf den Ruodlieb, ein Ritterepos aus dem 11. Jahrhundert, das bruchstückhaft im Kloster Tegernsee erhalten ist und in dem von diesem Brauch berichtet wird.4) Auch wurde die Ansicht vertreten, Kinder hätten dort ihre Schulgriffel oder Bauern ihre Sensen und Sicheln geschärft.

Allerdings bleibt festzuhalten, daß sich die Wetzrillen nicht nur an Sakralgebäuden, sondern auch an Burgtoren, Rathäusern und Flurdenkmälern finden. Diese Feststellung schließt wohl die Waffenweihe und das Eheschwert als Ursache für diese Erscheinungen aus. Auch werden die Schulkinder ihre Griffel wohl kaum an dem einsam stehenden Flurdenkmal abgezogen haben, ganz abgesehen davon, daß die bisher bekannten Wetzmarken rein technisch weder durch diese Schreibgeräte noch durch das Abziehen von Sensen und Sicheln entstanden sein können.

Zahlreiche schriftliche Quellen und mündliche Überlieferungen geben die Möglichkeit, die Rillen anders zu erklären. 1608 schreibt Graf Friedrich Magnus von Erbach (1575-1618) an seinen Amtmann Scherfer von Scherfenstein (1564-1625):

Was unsere Underthanen zu Künich [König] vor hochsträfliche Abgötterey und schändlichen misbrauch des allerheiligsten Namen Gottes mit und bey deme steinern Bildstock, so vor dem Dorff an der Straß stehet, treiben, in deme sie in der opinion und persuasion [Meinung und Überzeugung] stehen, wann ihnen Pferde oder Vieh krank werden, und sie dieselbige im Namen der heiligen Dreyfaltigkeit umb berührten Bildstock herumb füren und dann ein stücklein von demselben herabschlagen, klein zerstoßen und es dem kranken Viehe eingeben, das es demselben wird zu gesundheit helffe und solle solcher misbrauch und teufliche persuasion schon lange gewehrtet haben, wiewol unser ganz unwissend!5)

Um diesen, offenbar recht alten, Brauch ein für alle Mal zu unterbinden, ordnete der Graf an, die ganze Gemeinde müsse den Bildstock ausgraben, in kleine Stücke zerschlagen und diese in die Mümling schütten. Die Anweisung wurde offensichtlich befolgt, heute erinnert nur noch der Sockelstein an das alte Mal. Dies ist der älteste Beleg für die Verwendung von Steinmehl bei der Heilung von Viehkrankheiten im Odenwald.

Nicht nur bei Viehkrankheiten griff man auf das Steinmehl zurück. Wie eingangs von dem Warzenstein bei Neudorf geschildert, sind auch menschliche Beschwerden bis in die jüngste Zeit mit Steinmehl behandelt worden. In einem Brauchbuch aus Groß-Umstadt heißt es:

Für die Kinder vir die Krenf [Zahnkrämpfe] wen sie sich erst mahl haben. Da mist ihr an drei Krentz Stain gehen one Berufen und dirf auch nimant söhen [also ohne auf dem Weg mit jemand zu sprechen und dabei beobachtet zu werden]. Und mist ihr an jetem Krentzstain ein Eck abschlachen. Und mist in uhnblaicht Duch [ungebleichtes Tuch] nehe und daß muß auch drai Eckich sain. Und mist zum Schnaiter kehen und ein Rohtes Schalaksläbchen um Kotes wille Forten [um Gottes willen fordern]. Und da mist ihr daß Duch und die drai Stainichen in daß rote Läbchen neben. Und mist es ihm [dem Kind] an hengen, daß Du ich Dier zur Buse im Namen des Faters des Sohnes und des heiliges Kaistes.6)

Die fehlerhafte Wiedergabe zeigt, daß das Rezept von ungeübten Personen abgeschrieben wurde. Der Brauch soll aber manchem Kinde das Zahnen erleichtert haben. Noch vor kurzem hat man in der Landschaft Dreieich den Kindern vor dem Zahnen Säckchen mit Steinmehl umgehängt, das von einem Dreimärker bei Offenthal abgeschabt wurde.7) Ein weiterer Beleg findet sich im Gronauer Kirchenbuch:

Anno 1696, den 3ten Januar, des Abends gegen 3 Uhr, starb Hans Georg Klein, von Sintzem [Sinsheim] bürtig, kühehirt allhier, wurde begraben den 5.ejusdem, Aetatis [Alter] 50 Jahr.

Etwas später hat der evangelische Pfarrer folgenden Zusatz nachgestellt:

Dieser soll, wie nach seinem Tode erst offenbar wurde, in der neuen Neujahrsnacht von dem sogenannten weißen oder großen Markstein an dem Müntzeberg auf der Höhe, an dem Weg, den man nach Bensheim geht, ein Stück ohne Zweifel zu bösen Künsten und in des Teufels Namen haben holen wollen, deswegen er von demselben derogestalt angegriffen und noch vor seiner Haustür, da er hineintreten wollen, geschlagen und gedrickt worden, daß er ohne Wissen des Pfarrers den dritten Tag darauf verstorben.8)

Ein interessanter Hinweis nicht nur für die Volksmedizin, sondern auch für den Teufelsglauben in jener Zeit.
Der Isenburgische Kammerdirektor Karl Theodor Christian Müller veröffentlichte 1926 einen Beleg, der einen Dreiherrenstein an der Landesgrenze von Hessen-Darmstadt, Stolberg-Gedern und Stolberg-Ortenberg betraf. Bei einem Grenzgang im Jahre 1788 stellte man fest, daß der genannte Dreimärker so stark beschädigt war, daß er erneuert werden mußte. Im Grenzgangsprotokoll heißt es:

Welches dahero kommt, weil abergläubische Menschen in der Meinung stehen, die Dreiherrensteine wirkten bei Viehkrankheiten, wodurch diesselben verschlagen und mißhandelt werden. Weil dieser Stein seit Menschengedenken schon zum dritten Mal erneuert werden mußte, umgab man ihn nun mit einem Holzzaun.9)

Überliefert ist, daß professionelle Braucher Steinmehl mit Dachsfett mischten und diese Salbe als Wunderarznei für Mensch und Tier offerierten. Gewonnen wurde das Steinmehl durch Schaben, Kratzen oder Reiben mit Hilfe eines härteren Steins oder eines Metallgegenstandes.

Der Warzenstein
Der Bildstock nahe der Grenze zwischen Neudorf und Schneeberg heißt im Volksmund Warzenstein, wohl deshalb, weil er vorwiegend Warzen beseitigen sollte. Noch heute wissen ältere Leute, daß man früher in den Neumondnächten zum Warzenstein ging, dort Steinstückchen abrieb, mit denen man die Warzen vertreiben wollte, wobei der Spruch "Warzenstenle ich reib Dich; Warz, ich vertreib Dich. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes" zum Besprechen der Warzen gebraucht wurde. Unser Gewährsmann, Herr Bauer aus Schneeberg, der uns freundlicherweise zu dem schwer zu findenden Stein führte, erinnert sich, daß sein Onkel auf diese Weise eine große Warze losgeworden ist. Dazu findet sich im Arzneibuch des Schwarzenburgischen Leibarztes und Paracelsusschülers Andreas Tenzel von 1615 folgendes Rezept: Die Krähenaugen und Leichdornen [Hühneraugen] auch Warzen kuriert man, indem man sie etliche mal mit Wasser wäscht, so auf dem Leichstein steht,10) dasselbe Mittel hat schon Jacob Grimm bei der Aufzählung abergläubischer Bräuche in seiner Deutschen Mythologie genannt. Das Neudorfer Beispiel zeigt, daß nicht nur Grabsteine Gegenstand dieses Brauchs waren, sondern auch Flurdenkmale, und daß außer dem auf den Steinen stehenden Tau- und Regenwasser auch Steinstaub selbst verwendet wurde. Dieser Brauch war offensichtlich weit verbreitet, auch in anderen Landschaften heißen Flurdenkmale Warzenstein.

Warzen treten bei jungen Leuten vorwiegend im Gesicht und an den Händen auf, was natürlich sehr lästig ist. Deshalb wurde kein Mittel gescheut, um sie baldigst loszuwerden, auch wenn magischer Volksglaube wie das Brauchen in der Nacht, bei neuem Mond, unbeschrieen und die Verwendung abstruser Zauberformeln Bestandteil der Kur waren. Auch aus dem Odenwald sind Sprüche zum Besprechen der Warzen überliefert. In einem Brauchbuch aus Unter-Ostern von 1807 steht, der mit Warzen Behaftete solle während einer Beerdigung, ohne mit jemand zu sprechen, zu einem Bach gehen, die Hand ins fließende Wasser halten und dreimal sagen: Dem Toten läutets ins Grab, ich wasche meine Warzen ab.11)

Die gleiche Formel ist aus Neudenau an der Jagst überliefert. Dies ist eine Form des Hinwegbefehlens der Krankheit, die nach Meinung mancher Forscher zu den ältesten Krankheitssegen gehört. Sie stammt jedenfalls aus einer Zeit, in der es noch keine ausgebildeten Ärzte gab. Die Medizin ist älter als die Mediziner, heißt es. Interessanterweise haben sich gerade bei der Warzenbekämpfung Mittel der Volksmedizin besonders lange erhalten. Dies ist auf die Bedeutung der Suggestivbehandlung bei diesem Übel zurückzuführen, wie sogar der Gesundheits-Brockhaus (1952) feststellen muß. Die jetzt so beliebte indische Yogalehre kennt auch heute noch Formeln zum Besprechen von Warzen.

Anmerkungen:
1) Gotthilde Güterbock: Wetzkerben und Näpfchensteine. In: Der Odenwald, 3. Jg. (1956), H. l.
2) Heinrich Diehl: Kerben am Wormser Dom. In: Der Odenwald, 2. Jg. (1955), H. 2.
3) Der Odenwald. 2. Jg. (1955), H. 3.
4) Herbert Meyer: Die Eheschließung im Ruodlieb und das Eheschwert. In: Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte - Germ. Abteilung -, Bd. 52 (1932), S. 276 f.
5) Heinz Bormuth: Südhessische Belege zur Verwendung von Steinmehl in der Volksmedizin. In: Steinkreuzforschung - Studien zur deutschen und internationalen Flurdenkmalforschung - . Regensburg 1982, Sammelbd. Nr. 5, S. 17 f. In diesem Aufsatz habe ich die Anweisung eines Frankfurter Arzneibuches von 1605 wiedergegeben, in der mit Hilfe von gepulvertem Beinbrechstein, Sandstein auch Beinheilstein, einem sandigen Stein, der im Gerauer Land, in Darmstadt und an der Bergstraße im Sand in großer Menge gefunden wird, Brüche kuriert werden. Bei kritischer Überprüfung der Quelle wird man in diesem Sandstein eine Pflanze, den Knöllchensteinbrech, sehen müssen, die schon im Lorscher Arzneibuch von 795 als wichtige Heilpflanze genannt wird.
6) Georg Volk: Der Odenwald und seine Nachbargebiete. Stuttgart, 1900, S. 196.
7) Karl Nahrgang: Die inschriftlosen Steinkreuze in der Landschaft Dreieich und den angrenzenden Randgebieten. In: Schriften des Dreieichmuseums, H. l (1932), S. 7.
8) s. Anm. 5, S. 17.
9) K(arl) Th(eodor) Ch(ristian) Müller: Heilige Steine und Viehkrankheiten. In: Volk und Scholle, 4. Jg. (1926), S. 380.
10) Andreae Tenzelli: Medicinisch-Philosophisch-Sympathetische Schriften. Freiburg 1753 (Experimenta 1615), S. 255. Bei Jacob Grimm (Deutsche Mythologie, Bd. III, S. 255) als Mittel gegen Sommersprossen genannt.
11) Karl Schwinn: Ein Brauchbuch aus Unter-Ostern. In: Der Odenwald, 24. Jg. (1977), H. 4 und Peter Assion: Neudenauer Überlieferung von Josefine Weihrauch und Heiner Heimberger. Neudenau 1979, S. 124.

(Quelle: "gelurt" - Odenwälder Jahrbuch für Kultur und Geschichte 1996, Erbach 1995, S.9-12)

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