Deutschland Sachsen Lkr. Kamenz

Gersdorf


Abbildung
bei Kuhfahl (1931)

PLZ: 01920

GPS: N 51° 13.559', O 14° 03.541'

Standort: Eingemauert in der äußeren Kirchhofsmauer, südöstlich der Kirche.

Größe / Material: 62:36:? / Granit

Geschichte: "...Als einzige Ergänzung meiner Listen wäre lediglich ein winziges Steinkreuz nachzutragen, das voriges Jahr (1930) durch die Aufmerksamkeit des Herrn Lehrers Grunert in Gersdorf bei Kamenz ans Tageslicht kam. Es hatte am Dorfweg, der bei der Kirche nordostwärts nach Elstra abzweigt, gegenüber dem Friedhof ursprünglich in einer verdeckten Brunnenfassung gesteckt und dann in einer niederen Gartenstützmauer des Gutes Nr.33 Verwendung gefunden. Hier führt das Kreuzlein im Schlamm des Straßenablaufs hinter Gras und Gestrüpp ein völlig verborgenes Dasein. Immerhin erscheint dieser bescheidene Fund aber um deswillen bemerkenswert, weil sich am Kopfteil der wohlgebildete Umriß einer menschlichen Hand befindet, die zusammen mit einem darunter stehenden plumpen Messer eingehauen ist.
Die Zeichnung einer solchen Hand kommt auf tausenden von bekannten Steinkreuzen nirgends wieder vor und begegnet uns in unveränderter Form nur auf einem bayrischen Stein in Unterebersbach bei Neustadt a.d. Saale in Unterfranken,
wo in Verbindung mit der Hand ein Stück Ärmel oder Manschette wiedergegeben ist, sodaß man dabei eher an einen Stulphandschuh, wie an eine bloße Hand denken muß. Wieweit diese beiden Steinkreuzzeichnungen in symbolischer Bezeichnung etwa als ritterlicher Fehdehandschuh und als die abgehackte Hand eines meineidigen Verbrechers zu deuten wäre, bleibt unsicher, da urkundliche Nachweise in beiden Fällen fehlen.
Bei unserem kleinen Gersdorfer Stein wäre schließlich auch noch die weitere Deutung denkbar, daß eine (linke!) Hand nach dem Griff des Messers langt, um dessen Verwendung als Mordwerkzeug darzutun.
Jedenfalls trägt dieser unscheinbare Nachzügler wiederum dazu bei, die Zahl der Zweifel und Rätsel in der Steinkreuzforschung nach einer neuen Richtung zu vermehren. (Kuhfahl 1931)

Sage:

Quellen und Literatur:
Kuhfahl, Dr. G.A. - Die alten Steinkreuze in Sachsen, Nachtrag, 1936, Nr.77
Müller / Quietzsch - Steinkreuze und Kreuzsteine in Sachsen, Inventar Bezirk Dresden, 1977, S.189-190
Kuhfahl, Gustav Adolf - Zur Steinkreuzforschung in Sachsen, in: Landesverein Sächs. Heimatschutz, Heft 5-8, Band XX, 1931
Auszug aus: Kuhfahl, Gustav Adolf - Die alten Steinkreuze in Sachse



Die alten Steinkreuze in Sachsen
Nachtrag zum Heimatschutzbuch von 1928
Dr. Kuhfahl, Dresden 1936

...Die bemerkenswerteste Bereicherung für den sächsischen Steinkreuzbestand bildet schließlich das unscheinbare Kreuz von Gersdorf bei Kamenz, das zwar nicht durch Form und Größe, wohl aber durch die rätselhafte Zeichnung einer Hand mit vier Fingern aus dem üblichen Rahmen der eingeritzten Bilder oder Inschriften herausfällt. Ursprünglich war es in einer niederen Wiesenstützmauer bei der Dorfkirche am Straßenrand eingesetzt und dort in der vorüberziehenden Schlammpfütze hinter Brennnesselgestrüpp verborgen. Durch die Aufmerksamkeit des Lehrers wurde es bei der Tieferlegung der Straße vor zwei Jahren vor dem Untergang gerettet, dann aber leider trotz geeigneter Vorschläge beim Bau der neuen Kirchhofsmauer als Baustein verwendet und durch Mörtel so beschmiert, dass die Hand nur zum Teil noch erkennbar bleibt.
Die seltsame Strichzeichnung einer vierfingrigen linken Hand, die am Oberteil des Steines über einem groben Messer angebracht ist, gibt Veranlassung, hier wieder einmal der tiefen Symbolik zu gedenken, die nicht nur der Steinkreuzsitte selbst, sondern in gleichem Maße auch solchen schlichten Einmeißelungen beizumessen ist. Zu einer Zeit, in der die Schriftkenntnis nur bei einer kleinen gelehrten Oberschicht zu suchen war, wohnte natürlicherweise jeder bildlichen Darstellung in der Öffentlichkeit eine weit größere Bedeutung bei als heutzutage. Auch besaß die Masse des Volkes im Mittelalter ganz zweifellos weit mehr innerliche Besinnlichkeit und weit höheres Verständnis für die symbolische Sprache solch stummer Denkzeichen, als sich die hastende Menschheit der Gegenwart inmitten einer Flut von Druckerschwärze und Radiolärm überhaupt noch vorstellen kann. Infolgedessen dürfte es kaum angängig sein, jene steinerne Bildersprache bloß in primitivster Weise dahin auszulegen, dass eine Hand mit gespreizten Fingern nach der Waffe greift, sondern die Erinnerung an die symbolische Bedeutung, die solchen Gegenständen im öffentlichen Leben damals beizumessen war, oder auch an die hochnotpeinlichen Leibesstrafen des mittelalterlichen Volksrechts weist auf ganz andere Möglichkeiten hin.
Dazu kommt, dass die Steinkreuzsetzung mit dem Kriminalwesen der geistlichen ebenso wie der weltlichen Spruchbehörden zum mindesten seit dem 12. Jahrhundert in engster Berührung stand. Werfen wir also einmal einen Blick auf die zeitgenössische Gesetzgebung und schlagen die farbenprächtige Bilderhandschrift des Sachsenspiegels vom Jahre 1198 auf, die als einzigstes vollständiges Originalwerk des Ritters Eike von Repgow den kostbarsten Schatz der Sächsischen Landesbibliothek zu Dresden darstellt, so begegnen wir der abgeschlagenen Hand auf den hundert großen Pergamenttafeln an mehreren Stellen. Da die Strafe des Handabhackens jedoch unter den barbarischen Leibesverstümmelungen, die damals bei den Völkern und ihren Gewalthabern als Sühne menschlicher Fehltritte beliebt waren, zu den harmlosesten zählte, so kommt sie nur ein einziges Mal in Gestalt der Werbuse oder Währbuse vor. Die Hand hatte verwirkt, wer einen Vertragsgegner die Gewähr brach und ihm nicht zu versprochenen Leistungen verhelfen wollte oder konnte.
Den Strafvollzug führte der Henker im Beisein des Richters mit dem Beile auf einem steinernen Tisch oder hölzernen Klotz aus; in anderen Fällen trieb er mit Hammerschlägen wohl auch einen umgelegten Eisenring durch das Handgelenk des verurteilten Opfers.
Für das Fehlen des fünften Fingers auf dem Steinkreuz bietet der Sachsenspiegel trotz seiner umfangreichen Strafgalerie keinen Anhalt. Dem blutrünstigen Kriminalverfahren jener Zeiten, bei dem das einfache Kopfabschlagen oder Hängen fast noch einen besonderen Gnadenbeweis darstellte, mag der Verlust eines einzelnen Fingers viel zu unbedeutend erschienen sein. Wenn Handbilder mit vier Fingern also trotzdem manchmal vorkommen, so geht man vielleicht nicht fehl, die Darstellung eher auf das Ungeschick des Zeichners als auf strafweise Entstellung durch Henkershand zurückzuführen. Scherzeshalber nehme man einmal selbst den Stift zur Hand und versuche, an ein Handgelenk von vorgezeichneter Breite - mit dem Daumen beginnend - die anderen ausgespreizten Finger in einem Zuge anzusetzen; in den meisten Fällen wird der Raum mit dreien schon ausgefüllt sein. Der Handwerksmeister des Gersdorfer Kreuzchens ist sogar bereits mit diesem dritten Finger über die abgerundete Oberkante der kleinen Steinplatte hinausgeraten und hat für den letzten dann überhaupt keinen Platz mehr gefunden. Aber nicht allein das Bild der hand, sondern auch das dolchartige Messer sagt dem Zeitgenossen etwas mehr, als der oberflächliche Beschauer von heute zu ahnen vermag. Bei der Personendarstellung des Sachsenspiegels hält sich der Zeichner nicht nur in Form und Farbe, sondern auch bei den verschiedenen Attributen an gleichbleibende Merkmale, die den königlichen Gerichtsherrn und den Richter, den Kläger und Angeklagten, den Dieb oder Mörder, den Zeugen oder Henkersknecht, den Juden oder Landfremden ohne besondere Erklärung genügend charakterisieren; ebenso gibt er den verschiedenen deutschen Volksstämmen, den Thüringern, Sachsen, Schwaben usw., gewisse Erkennungsstücke bei, die zum Teil sogar humorvollen Charakter tragen. So ist ein Mann, dem der Sachs, d.h. das breite zweischneidige Messer mit dem plumpen Holzgriff, am Leibgurt hängt, als Sachse gekennzeichnet, er entstammt also den mitteldeutschen Landen bis zur Nordseeküste. Dementsprechend kehrt diese kurze bäuerliche Wehr auf den Steinkreuzen dutzendfältig wieder und unterscheidet sich deutlich von den Langschwertern, Krummsäbeln, Lanzen, Dolchen und anderen ritterlichen Stich- und Hiebwaffen.
Wenn man die Strichzeichnungen am Gersdorfer Kreuz also auf diese Weise betrachtet, so erzählen sie uns vielleicht von einem königlichen oder bischöflichen Wahrspruch, auf Grund dessen ein sächsisches Bäuerlein im 13. Jahrhundert als Währbuse die Hand hergeben musste. Mittelst eigener Phantasie können wir uns dann die vorausgegangenen Geschehnisse beim Kuhhandel und Pferdekauf oder bei Getreidelieferung nach falschem Maß und Muster hinzudenken, wiewohl für solche Vorkommnisse in unseren Zeitläufen vom Beil des Scharfrichters nichts mehr zu fürchten ist...


Sühnekreuze & Mordsteine