Neben der Pest hat sich eine andere regelmäßige Gefolgschaft der mittelalterlichen Kriege mit
unvertilgbaren Schreckenserinnerungen in das Gedächtnis unseres Volkes eingetragen, das ist der Hunger. Auch an manchem Steinkreuz
haftet seine Spur. Eines erbettelten Brötchens halber haben sich am "Hungerstein" oder "Semmelkreuz" in Hirschfeld
und Wolfersgrün bei Kirchberg zwei Frauen, in Wehrsdorf zwei
Vagabunden, in Sohland zwei Schusterlehrlinge, an den beiden rechteckigen Denksteinen in
Obercunewalde bei Löbau zwei Knaben und an dem Kreuz vor der Oberseifersdorfer
Windmühle zwei Bauernburschen während der Hungersnot mit den Dreschflegeln der Sage nach totgeschlagen. [...] Wenn hierbei schon viel Übertreibung hereinspielt, so will es besonders
in Hungerzeiten noch weniger glaubhaft erscheinen, daß die ausgehungerte Einwohnerschaft dem armen fremden Bettelvolke auch noch kostspielige Denkmäler aus
dauerhaftem Stein gesetzt habe.
Die ernsthafte Forschung gibt den eingemeißelten Bildern von Brot und Brezel
entweder die Deutung, daß es sich um Handwerkszeichen des Bäckergewerbes beim gewaltsamen Tode eines seiner Zunftgenossen handle, oder daß ein Anklang an
die germanischen Totenopfer und an die Bräuche des klassischen Altertums vorliege, wo den Verstorbenen eine wirkliche oder symbolische Zehrung auf den Wege zum
Hades mitgegeben und sogar der Obolus für den Fährmann des Styx ins Grab gelegt wurde. Auf diese kulturhistorisch-bedeutsamen Zusammenhänge, die auch in der
nordischen Sage nachzuweisen sind und nach neueren Ansichten sogar von dort aus ihren Weg nach dem Mittelmeer genommen haben sollen, wird bei der Deutung
des gesamten Steinkreuzproblems noch zurückzukommen sein.
Die unverkennbare Lust des Volkes am Fabulieren und seine Vorliebe für düstere und blutige Schauergeschichten läßt sich an allen häufiger
auftretenden Steinkreuzsagen von Krieg, Pest und Hungersnot oder dergleichen wiedererkennen. [...]
(Kuhfahl, Dr. G.A. - Die alten Steinkreuze in Sachsen, 1928, S.180-181)