Rechtsbräuche


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Bräuche um das Sühnen von Totschlägen im Mittelalter
von Walter Saal

Nach 1945 nahm die Steinkreuzforschung in der DDR einen kaum geahnten Aufschwung durch die Verordnung zum Schutze der Bodendenkmale.1) Trotz aller Beschränkungen in den Veröffentlichungsmöglichkeiten wurden die von Dr. G.A. Kuhfahl für Sachsen2) begonnenen Arbeiten zur großräumigen Erfassung der Steinkreuze im damaligen Land Sachsen-Anhalt 1952 und 19543) fortgesetzt und auch in Thüringen 1960 durchgeführt.4) Eine Neubearbeitung des sächsischen Steinkreuzbestandes ist druckfertig. Auch in den nördlichen Bezirken der DDR zeigen sich Ansätze zur vollständigen Erfassung der Sühnemale.5)
Auch der Sinngehalt der überwiegenden Anzahl der Steinkreuze als Sühnezeichen und ihre geschichtliche Entwicklung6,7) wurden untersucht. Überhaupt keine Beachtung fand jedoch bisher das mit der Sühne von Totschlägen verbundene Brauchtum, das sich vor allem an die Bestattung des Erschlagenen knüpft und noch mehr an die Beisetzung des Leibzeichens, von der bisher allgemein nur das Attribut "feierlich" erwähnt wurde. Hier fließen die schriftlichen Quellen im Gegensatz zu den meist vertraglich festgelegten Sühnen so spärlich, daß wohl schon deshalb das Thema bisher kaum berührt wurde. - Dem Verfasser waren bereits länger drei Stellen im IV. Teil der Mansfelder Chronik von Cyriacus Spangenberg bekannt, deren Aussage über die im Mansfeldischen geübten Bräuche bei der Beisetzung Erschlagener etwas unglaublich klang und die Befürchtung hervorrief, daß Spangenberg hier in seiner durch Erziehung und Beruf geprägten Geisteseinstellung zuungunsten der alten christlichen Lehre, des Katholizismus, übertrieben hatte. Der Verfasser hat daher in seinen Arbeiten zur Steinkreuzforschung 3,6,7) diese Berichte nie erwähnt, sieht sich aber nun um so mehr dazu in der Lage, da diese Angaben durch eine Veröffentlichung aus Süddeutschland8) bestätigt werden. Cyriacus Spangenberg wurde am 17. Juni 1528 in Nordhausen geboren und verstarb am 10. Februar 1604, vermutlich in Strasburg. Nach einem vierjährigen Studium in Wittenberg als Schüler Luthers und vor allem Melanchthons war er bis 1547 Lehrer in Eisleben, dann bis 1553 Pfarrer an St. Andreas in der gleichen Stadt, von 1553 bis 1559 Hofdiakon in Mansfeld und anschließend bis 1575 Generaldiakon der Grafschaft Mansfeld daselbst Im Streit zwischen Flacius und Strigelius wurde er des Manichäismus beschuldigt und aus Mansfeld vertrieben. Er lebte zwei Jahre in Saalfeld und Strasburg im Exil und ab 1578 in Nordhausen. 1580 wurde er Pfarrer in Schlitzsee in Buchen, wo er aber 10 Jahre später seines Amtes enthoben wurde. 1595 wurde er Pfarrer zu Vacha, zuletzt lebte er in Strasburg. 1576 beendete er die Arbeiten an der Chronica Mansfeldica, die nur zu einem Teil zu seinen Lebzeiten noch gedruckt wurde. Die gesamte Chronik wurde erst in diesem Jahrhundert in Eisleben9) neu aufgelegt, nachdem die unveröffentlicht gebliebenen Originalmanuskripte in Wiener Archiven aufgefunden werden konnten. 1590 beendete Spangenberg die 1546 begonnene Querfurter Chronik. Von seinem Adelsspiegel erschien der erste Teil 1591 und der zweite Teil 1594. Auf fol. 133a/134 im ersten Buch des vierten Teiles (Eisleben 1916) wird aus Vatterode ein Totschlag berichtet, der um 1410 an Lorenz Müller geschehen war. Der Haupttäter entkam, der Mittäter Jakob Schneider mußte auf dem Kirchhofe im Leichenhaus seine Oberkleidung ablegen und barfuß im Hemd rückwärts zu des Entleibten Grabe gehen, wobei er in jeder Hand eine brennende Kerze zu tragen hatte. Die Freundschaft des Erschlagenen folgte ihm mit blanker Wehr auf dem Fuße und hätte ihn erstochen, wenn er gestrauchelt oder gefallen wäre. Am Grab hatte er dann zu Häupten des Begrabenen einen Stock einzustecken, damit ein Loch zu bohren und dem Entleibten drei Abbitten ins Grab zu rufen. - Danach mußte er wieder ins Leichenhaus gehen, dort beichten und nach Empfang der Absolution seine Kleidung wieder anlegen. Erst danach konnte er sich wieder unter die Leute begeben.
Nach fol. 176/176a desselben Buches hatte ein Edelmann von Benndorff auf Helbra zwischen Helbra und Eisleben seinen Hofmeister erschlagen. Es kam zur Sühne und dabei auch zur Setzung eines Steinkreuzes an der Totschlagstelle. Auf dieses Kreuz mußte sich nach Abschluß der Sühneverhandlung der Edelmann legen und hier so lange warten, bis man ihn mit einer Prozession holte und in das Dorf und die Kirche brachte, wo er die Absolution von seiner Tat erhielt. Spangenberg bemerkt hierzu noch, daß dies dem von Benndorff 100 Gulden gekostet habe; ob nur die Prozession oder die ganze Sühne, ist aus dem Wortlaut nicht zu erkennen, die Sühne wäre aber im letzteren Fall dem Totschläger nicht so teuer gekommen.
Nach Spangenberg (fol. 225 des gleichen Buches) hat 1510 in Augsdorf einer ein Weib erschlagen, wobei er die Tat ähnlich wie in Vatterode sühnen mußte. Er mußte rückwärts das Dorf hinauf nach dem Kirchhof gehen mit zwei brennenden Kerzen in den Händen. Des Weibes Freundschaft folgte ihm mit bloßen Wehren. Wenn er gefallen wäre oder sich umgesehen hätte, ehe er auf den Kirchhof gekommen wäre, so hätten sie die Macht gehabt, ihn zu entleiben.
Die drei Schilderungen klingen etwas unglaubhaft, noch dazu, wenn man, wie bereits erwähnt, an den Beruf und Werdegang des Chronisten denkt. Hinzu kommt, daß der Erlaß der Lex Carolina 1532, die auch den Totschlag unter gerichtliche Strafe nahm, zeitlich mit der Reformation zusammenfällt. Trotzdem wurde noch zwischen 1561 und 1565 in Blankenheim bei Eisleben, also unter Spangenbergs Augen, ein Steinkreuz gesetzt. Da die Totschläger bereits gerichtlich abgeurteilt worden waren, ließen Freunde des Erschlagenen das Kreuz setzen. Die Setzung beweist aber, wie fest der Brauch des Steinkreuzsetzens im Volk verwurzelt war. Dagegen wurde 1556 in Thesau zwischen Lützen und Pegau noch eine Sühneverhandlung zwischen bäuerlichen Kreisen durchgeführt, d.h., die Lex Carolina blieb noch eine Generation nach ihrem Inkrafttreten unbeachtet. Allerdings wurde hier auch nicht mehr die Setzung eines Steinkreuzes verlangt.
Martin Dömling8) veröffentlicht nun eine Sühne von 1482 aus Stötten am Auerberg bei Kaufbeuren, nach der außer der Steinkreuzsetzung an der Totschlagstelle die üblichen Wallfahrten, die Wergeldzahlung und die kirchliehen Stiftungen verlangt werden. Nach der aktenkundigen Aufzeichnung der Sühne hatten die beiden Totschläger des Stöttener Pfarrers Johann Iglinger, Erhard und Jörg Mayrendres von Burk, im Heimatort des Erschlagenen - Kaufbeuren - zum Seelenheil des Getöteten einen Trauergottesdienst abhalten zu lassen, der bereits am Vorabend mit einer Vigilie begann und am Trauertage selbst aus dem Seelenamt und 40 Nebenmessen bestand, wobei an der Bahre 4 Wachskerzen von je einem Pfund Gewicht aufzustecken waren. Während der Messen hatten die beiden Täter andächtig mitzubeten. Zum Gottesdienst mußten dem Vater und den Verwandten des Erschlagenen weitere 200 Wachskerzen gegeben werden. Während der Trauerfeier, die bei 40 Messen sicher einige Stunden dauerte, hatten die beiden Totschläger an der Bahre zu stehen oder zu knien, und zwar barfuß und bis auf den Gürtel entkleidet, d.h. ohne die wärmende Oberkleidung nur in der Hose. Innerhalb des Gottesdienstes sprach der leitende Priester eine offene Beichte und Bitte für die beiden Büßer. Anschließend an den Gottesdienst hatten die beiden Totschläger zum Grab des Erschlagenen in Kaufbeuren zu gehen und sich mit gekreuzten Armen auf dieses zu legen und für den Erschlagenen zu beten.
Wir können damit verallgemeinern, daß bei zeitiger Buße, die wohl bei Affekthandlungen, wie es Totschläge fast stets waren, sehr oft gegeben war, der oder die Totschläger am Trauergottesdienst ohne Oberkleidung und barfuß an der Bahre stehend oder kniend teilzunehmen hatten, wobei der Tote jedoch kaum noch selbst auf der Bahre lag, sondern diese nur symbolisch den Toten bezeichnete. - Es folgte der Grabbesuch, wobei das Grab bereits geschlossen war. Bei diesem Akt hatten sich die Totschläger auf das Grab zu legen und für den Erschlagenen zu beten bzw. ihm Abbitte zu leisten. An die Stelle des Grabes konnte auch das an der Totschlagstelle errichtete Steinkreuz = Sühnekreuz treten. - Bis zum Abschluß der endgültigen Sühne, als deren Termin der Grabbesuch angesehen werden muß, hatte die Sippe des Getöteten das Recht zur Blutrache, das auf dem Weg zum Grab gefahrlos wahrgenommen werden konnte, wobei der Totschläger infolge seines Rückwärtsganges seinen Verfolgern stets das Gesicht zukehrte, also nicht meuchlings getötet werden konnte. Man wird aber annehmen dürfen, daß von diesem Recht nur in den seltensten Fällen Gebrauch gemacht wurde, da ja dann die recht erhebliche Wergeldzahlung in Wegfall gekommen wäre.
Bei verzögerter Buße, d.h., wenn zwischen Totschlag und Sühne ein längerer Zeitraum lag, wurde dem Erschlagenen eine Hand oder auch nur ein Finger als Beweisstück für den Totschlag, das sogenannte "Leibzeichen", abgetrennt und meist in der Pfarrkirche des Getöteten aufbewahrt. Dieses Leibzeichen wurde beim Grabbesuch nach der Trauerfeier in der Kirche feierlich nachbestattet. Vermutlich mußte es der Totschläger selbst zum Leichnam des Erschlagenen oder zu dessen Sarg in das Grab legen. - Die unbegrabene Hand war eine stete Mahnung an die Sippe des Getöteten zur Pflicht der Vergeltung bzw. der Sühne. - Die "Klage der toten Hand" ist nach His10) ein sächsisch-thüringischer Brauch. Die noch heute hier und da erhalten gebliebenen "verdorrten" Hände, ich nenne hier nur die "Nonnenhand" in Stendal, die vertrocknete Hand in Abberode bei Aschersleben oder die im Germanischen Museum zu Nürnberg, sind unbestattete Leibzeichen, also die Überbleibsel unerledigter Rechtsfälle. Auch die bekannte Hand Rudolfs von Schwaben im Dom zu Merseburg dürfte ein solches unbestattetes Leibzeichen sein und möglicherweise erst zur Sagenbildung vom Treueschwur gegenüber dem Kaiser beigetragen haben. Bei der starken Parteinahme des Bischofs Werner von Merseburg für Rudolf von Schwaben und bei dem Glauben an die Auferstehung wäre es unverständlich, daß Werner seinen Freund unvollständig beigesetzt haben sollte.
Nach einer von Brockpähler11) veröffentlichten Sühneurkunde vom 17. Januar 1501, die vor dem Abt Hermann von Corvey abgeschlossen wurde, hatten die vier Totschläger "die Hand zu Grabe zu bringen". - Wenn nach einem 1715 veröffentlichten Ravensberger Rechtsbuch, das ebenfalls Brockpähler erwähnt, gesagt wird: "Nach der Messe in der Kirche, wo der Tote begraben ist, soll sich der Totschläger auf die eine Seite des Grabes setzen, dem nächsten Blutsverwandten des Toten gegenüber, und soll dreimal bitten, daß man ihm den Totschlag verzeihe. Danach nimmt er von den Freunden über das Grab hinweg die Hand des Toten entgegen - die Hand des ehemaligen Feindes streckt sich ihm gleichsam zur Versöhnung entgegen -, läßt sie ins Grab fallen und reicht über das Grab 'das erste Geld'." Das Ganze klingt fast etwas zu dramatisch, doch dürfte der Versöhnungsakt als solcher zutreffend geschildert sein, noch dazu im Nachgang dem Totschläger angeraten wird, die Sippe des Erschlagenen ein Jahr lang zu meiden und im Wirtshaus, in dem schon Mitglieder dieser Sippe sitzen, nur eine Kanne Bier zu trinken und dann wieder zu gehen. - Das offene Grab und das Fallenlassen der Hand sind jedoch sehr unwahrscheinlich und dürften der Phantasie des Aufzeichners entsprungen sein, wie sich in späteren Aufzeichnungen Wahres und Erdachtes gern vermischen. Im übrigen wird in den zeitlich näher stehenden Aufzeichnungen Spangenbergs und der Kaufbeurer Sühne stets vom Legen auf das Grab zum Leisten der Abbitte gesprochen, so daß die abweichende Darstellung in der Ravensberger Aufzeichnung etwas unwahrscheinlich erscheint. Allerdings kann es auch landschaftsbezogene Unterschiede gegeben haben. Klärung könnte nur die zufällige Ausgrabung eines Erschlagenen bringen. Bestattungen an Steinkreuzen konnten jedoch bisher durch fachgerechte Ausgrabungen nicht nachgewiesen werden.

Literatur:
1) Verordnung zum Schutze und zur Erhaltung der ur-und frühgeschichtlichen Bodenaltertümer. Gesetzblatt der DDR 1954, Teil II, Nr.54.
2) Dr. G.A. Kuhfahl: Die alten Steinkreuze in Sachsen. Dresden 1928.
3) Jahresschrift für mitteldeutsche Vorgeschichte, Band 35 und 38. Halle 1952 und 1954.
4) Heinz Köber: Die alten Steinkreuze und Sühnesteine Thüringens. Erfurt 1960.
5) Horst Ende: Denk- und Sühnesteine in Mecklenburg. In: Informationen des Bezirksarbeitskreises für Ur-und Frühgeschichte Schwerin, Nr.13 (1973), S.56-67.
6) Walter Saal: Das Alter der mitteldeutschen Steinkreuze (Mord- und Sühnekreuze). Mitt. für Ur- und Frühgeschichte, 1965, H.1 und 2.
7) Walter Saal: Zur Entwicklungsgeschichte der mitteldeutschen Steinkreuze. Forschungen und Fortschritte, 41.Jg., 1967, H.5, S.140-143.
8) Martin Dömling: Das Sühnekreuz von Bertoldshofen. Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben, 59./60. Band, S.321-329.
9) Cyriacus Spangenberg: Mansfeldische Chronica, IV.Teil, 1.Buch. Eisleben 1916.
10) Rudolf His: Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Teil I und II Leipzig/Weimar 1920/35 (I.S.327).
11) Wilhelm Brockpähler: Steinkreuze in Westfalen. Münster 1963, S.122 bis 123.

(Sächsische Heimatblätter, 21.Jg., 1975, Nr.1, S.223-224)

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