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Ruhsteine - Dorfsteine - Gerichtssteine
von Franz Wilhelm, Pilsen
Bei meinen Forschungen nach alten Steinkreuzen im nordwestlichen Böhmen und in den angrenzenden
Gebieten*) stieß ich, namentlich in den Bezirken Kaaden, Komotau, Saaz, Brüx und Dux, ab und zu auch auf Steine,
die tief in die Erde - bis an die Arme - eingesunkenen Kreuzen glichen, bei näherer Betrachtung sich aber gewissermaßen nur als die Oberteile von Kreuzen
erwiesen, da ihnen Stamm und Fuß fehlten. Manche haben statt des gewöhnlichen (prismatischen) Sockels eine halbzylindrische Fußung, die der östlich
gelegenen Bezirke (Brüx und Dux) sind meist nur einfach würfelförmig. Im allgemeinen zeigen sie, soweit sie mit der Kreuzesform übereinstimmen, größere
Dimensionen als die meisten alten Steinkreuze. Auch sind sie nicht gar so stumm wie diese, die, wie wir wissen, außer einigen primitiven Zeichnungen
(Kreuz, Schwert,
Beil und Armbrust) weder eine
Jahreszahl, noch sonst eine Inschrift tragen, sondern man findet auf den platt auf der Erde, zumeist an Gemeindegrenzen liegenden Steinen - die aber gleichwohl
nicht als Grenzsteine zu dienen bestimmt sind, da man solche nicht selten in ihrer unmittelbaren Nähe trifft - sogar recht häufig Jahreszahlen,
die gewöhnlich auf das Ende des 16. oder den Beginn des 17. Jahrhundertes weisen, dazu meistens auch noch einige, wie es scheint, zusammenhanglose
Buchstaben eingegraben, deren Ursprünglichkeit allerdings nicht durchwegs verbürgt werden kann. Nur selten findet sich ein zusammenhängender Text als
Inschrift. Man heißt sie hierzulande, das ist in den Bezirken südlich des Erzgebirges, "Ruhsteine", oder in Verwechslung mit den alten Steinkreuzen auch
manchmal "Schwedensteine".
In der Literatur wird man sich vergeblich nach den Ruhsteinen umschauen. Nur in handschriftlichen alten Grenzbeschreibungen;
Gemeindeordnungen oder sonstigen Berichten über lokale Ereignisse ist hie und da von einem solchen Steine, gewöhnlich in der Fassung "beim Ruhstein", die
Rede. Allem Anscheine nach ist über die "Ruhsteine" bisher weit weniger nachgedacht worden, als über die alten Steinkreuze. Einmal weil man sie als
gleichbedeutend mit diesen betrachtete - sind ja doch auch die gleichartigen Sagen über sie verbreitet, wie über die eigentlichen alten "Kreuzsteine", die wir als
Sühndenkmäler für einen begangenen Totschlag erkannnt haben, auch die häufig für beide gebrauchte Bezeichnung "Schwedenstein" bezeugt dies - zum anderen,
weil man sich vielleicht auch mit der aus ihrer Benennung hervorgehenden Zweckerklärung zufrieden gab. Denn was
soll ein Ruh stein anderes sein als ein Stein zum Ausruhen. Wer Marktbesucher, besonders Frauen, die schwerbepackten
Körbe auf solchen Steinen absetzen sah und vielleicht auch noch den einen oder anderen müden Wanderer beobachtete, wie er hier ein Weilchen der Ruhe pflegte,
der wird in einem solchen Steine - zugleich in Würdigung der an ihn sich knüpfenden Tradition, die die Veranlassung zu seiner Benennung gab - gewiß nichts
anderes erblicken wollen als eine Bank zum Ausruhen.
Und doch dürfte auf sie weder die eine noch die andere Erklärungsform anzuwenden sein. Dem Verfasser dieser Zeilen ist es gelungen,
einen solchen Stein mit einer zusammenhängenden Inschrift aufzufinden und diese zu entziffern. Der Stein liegt an der linksseitigen äußeren überhöhten
Grabenwandböschung der von Komotau nach Reizenhain führenden Straße, knapp über Oberdorf,
und trägt in lateinischer Majuskel nachstehende, die der Straße zugekehrte Seite des 115cm breiten, 60+33m hohen und 36cm dicken Steines (feiner Sandstein)
vollständig bedeckende Inschrift:
Dieser Dhaeder had avf dem Comedaver Marc nach ergangenen gnaedigen Vrdell vnd Abhavnc der rechten Hand seinen Lohn ebfangen. Dieser Stein ist zvm
Gedechdnus tes Andre ...... an dieses Ord gsetz worden. Got verleie ihm die ewige Rvhe.
Auf der an einer steilen Böschung anstehenden Rückseite, die erst jüngst freigelegt worden ist, liest man in der gleichen, ebenfalls die ganze
Fläche einnehmenden Schrift:
"Anno 1645 den 22. October ist an dieser Stelle Andre... Mahn von Merzdorf von seinen Vetter Baul Mahn mörderlicher Weise erschosen vnd in der Stad
Komotau auf dem Gottesacer begrawen worden."
Diese Inschrift - allerdings die einzige in solcher Ausführlichkeit, die uns überhaupt untergekommen ist - spricht deutlich. Insbesondere
sagt sie uns, daß dieser Stein seiner ursprünglichen Bestimmung nach nichts zu tun hatte mit dem zeitweiligen Ausruhen vorübergehender müder Menschen, denn
hier handelt es sich um die ewige Ruhe eines gewaltsam aus dem Leben geschiedenen Mannes, der nicht einmal an dieser Stelle begraben liegt.
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Ruhstein bei Hagensdorf, Bezirk Komotau |
Da nun dieses Stein genau dieselbe Form und Größe wie die meisten anderen in der hiesigen Gegend, besonders um Komotau herum
befindlichen, als "Ruhsteine" angesprochenen Denkmäler besitzt, so darf vielleicht angenommen werden, daß auch diese einem ähnlichen Zwecke zu dienen
bestimmt gewesen sind, wie der Oberdorfer Stein, der nach seiner Inschrift - wenigstens in gewissem Sinne - als ein Sühnstein aufzufassen ist, wenn auch nicht
in der Weise, wie die alten Steinkreuze es sind, die, wie schon oben angedeutet, in allerdings weit früherer Zeit zur Sühne für einen Totschlag nach
vorausgegangenem Vergleiche mit den Angehörigen des Getöteten von dem Täter zu setzen waren.
Von anderen derartigen; Steinen sei nur noch einer, und zwar jener bei Hagensdorf (Bezirk
Komotau) angeführt, der zwar keinen zusammenhängenden Text als Inschrift trägt, immerhin aber etwas gesprächiger ist als die meisten seiner Geschlechtsgehossen.
Die Inschrift lautet:
Das kälteverdächtige Datum gab der allzeit geschäftigen Fama Veranlassung, weiter zu erzählen, daß hier ein Liebespaar den Tod durch
Erfrieren gefunden hätte, ein Sagenmotiv, das in der hiesigen Gegend auch bei den mehrerwähnten alten Steinkreuzen öfter wiederkehrt. Auch diese, wenn - der
Hauptsache nach - auch nur aus einzelnen Buchstaben bestehende Inschrift, die ganz gut die Bedeutung einer "Legende" haben könnte, sowie die mit den übrigen
Steinen gleiche Gestalt widersprechen, nicht der von uns oben über sie im allgemeinen ausgesprochenen Meinung, sie samt und sonders für Sühndenkmäler in dem
näher bezeichneten Sinne zu nehmen. Wir wären somit über diese Steine für unsere Gegend und nach unserer bisherigen Kenntnis darüber so ziemlich im reinen
gewesen, wenn wir nicht eben aus dem benachbarten Königreiche Sachsen über eine aller Wahrscheinlichkeit nach nicht bloß ähnliche, sondern gleiche
Erscheinung - wenn auch unter anderem Namen - Nachricht erhielten, die uns zu weiteren Betrachtungen und Vergleichen nötigt.
In einem Artikel "Über alte Dorfsteine in Westsachsen" (von Dr. W.C. Pfau
in der in Zwickau i.S. erscheinenden volkskundlichen Zeitschrift "Unserer Heimat") finden wir nämlich Steine beschrieben, von denen wohl nur einige in Form und
Größe unseren "Ruhsteinen" gleichen, da die meisten von ihnen, bei gleicher Höhe, zylindrisch zubehauen sind. Sie werden dort auch nicht Ruhsteine, sondern
"Dorf-, Kehr-, Gemeinde- oder Bauernsteine" genannt. Ihr Betrachter, der von diesen für die Volkskunde und für Forschungen über Dorfverfassung sicher recht
bemerkenswerten Altertümern auch für seine Gegend konstatiert, daß sie "bisher ziemlich wenig, fast gar nicht gewürdigt worden sind", weist in überzeugender
Weise nach, daß sie als Versammlungsort für die alten "Rügengerichte" dienten. Bei diesen kamen, wie uns auch aus
anderweitigen Aufzeichnungen darüber bekannt ist, die Gerichtspersonen aus allen Dörfern eines Weichbildortes zu gewissen Zeiten zusammen, um die bei ihnen
etwa vorgekommenen Ungesetzmäßigkeiten und andere wichtige Ereignisse vorzubringen, zu "rügen". Sie betrafen insbesondere Weg- und Grenzstreitigkeiten,
Wasserschäden (namentlich durch fremde Teiche verursacht), verlorene und gefundene Gegenstände, Diebstähle, Schlägereien u.s.w. In vielen deutschen Ländern
wurden diese Gerichte mit besonderen Feierlichkeiten oder doch Förmlichkeiten abgehalten. Ein solcher Rügenort von weiter reichender Bedeutung war beispielsweise
die von Heinrich dem Löwen in Braunschweig im Jahre 1166 aufgerichtete Säule mit dem Bronzelöwen, bei der von den herzoglichen Vögten nachweislich noch bis
zum Jahre 1486 öffentliche Rügengerichte abgehalten wurden. Für einzelne Orte Westsachsens sind sie noch für weit spätere Zeiten, ja selbst noch bis in das vorige
Jahrhundert hinein nachgewiesen.
Während für Orte von größerer Bedeutung, wie wir in dem Falle Braunschweig gesehen haben, das Hoheitszeichen, seinem Wirkungskreise
gemäß, auch schon in seiner äußeren Ausstattung entsprechend vornehm gehalten war, genügte für kleinere, minder bedeutende Orte ein einfach zubehauener Stein
als Sammelort zum Rügengerichte. Wie Dr. Pfau in dem obengenannten Aufsatze mitteilt, heißt es in der "Gemeindeordnung": des nach Rochlitz (bei Chemnitz)
eingepfarrten Dorfes Köttwitzsch vom Jahre 1836 zunächst, daß vier "Kehrtage" des Jahres zu halten seien: zu Walpurgis,
Johannis, Donnerstag vor Burkhard, Thomas. Der § 6 sagt: "Zu Johanni und Burkhard wird der Kehrtag bei dem Gemeindestein
verwilliget," und § 9 derselben Gemeindeordnung bestimmt: "Wenn der Kehrtag beginnt, muß jeder Nachbar, wenn der Heimbürge vom Rufen zurück nach Hause
gekommen ist, nach Verlauf einer Viertelstunde in eigener Person in der Gemeindestube oder an dem Gemeindestein sein."
Nach diesen deutlich sprechenden Bestimmungen hatten sich also die Mitglieder einer Gemeinde (in anderen Fällen die dazu bestimmten
Personen aus mehreren Gemeinden) zu gewissen, näher bezeichneten Terminen bei einem, allen zum Erscheinen beim Rügengerichte Verpflichteten bekannten und
darum nicht weiter beschriebenen Steine zu versammeln. Dies geht auch noch aus der im Jahre 1720 aufgerichteten "Gemeindeordnung" des Dorfes Fischheim
(bei Chemnitz) hervor, die in Punkt 3 befiehlt: "Wenn der Heimbürge zusammenschreyet, soll ein jeder Nachbar, wenn er einheimisch (zu Hause!) und nicht etwa
krank ist, alsobald beym Gemeinsteine erscheinen ... Welcher Nachbar nicht da ist, soll 3 Pfg. Buße geben."
Von dem obenerwähnten Köttwitzscher Stein, der heute nicht mehr vorhanden ist, erzählen alte
Dorfinsassen, daß er ein großer runder Stein war, auf dem die Namen der Bauern eingegraben standen. (Ob bloß mit
ihren Anfangsbuchstaben oder ganz ausgeschrieben, wird nicht gesagt.) Er befand sich auf dem Gemeindelande, auf welchem jetzt eine Schenke errichtet worden
ist. Der Stein hieß auch der "Bauernstein". - Ein ähnlicher Stein liegt in Noßwitz. Derselbe ist jedoch an einer Seite
abgeschnitten (also halbzylindrisch, gleich einem bei Malkau, Bezirk Komotau, liegenden. Stein). Ein anderer
kreisrunder "Bauernstein", dessen Stelle vor dem Gute des Erbrichters in Mutzschroda (eine Stunde südwestlich von Rochlitz bei Chemnitz) war, wird als gerade
so hoch beschrieben, "daß man die Beine bequem ausstrecken konnte, wenn man darauf saß", und von einem weiter westlich (an der altenburgischen Grenze)
liegenden "Gemeindesteine" wird berichtet, daß sich in ihm neben der Jahreszahl (1818) "Anfangsbuchstaben von Namen"
eingehauen befinden.
Aus all diesen Nachrichten über die "Gemeindesteine" Westsachsens, die, wie wir gesehen haben, unzweifelhaft einem rechtstümlichen
Zwecke (als Versammlungsort für die alten Rügengerichte) dienten, und deren Beschreibung, wie auch alles andere, das wir über sie wissen, namentlich auch ihre
äußere Erscheinung, selbst in den Einzelheiten mit unseren "Ruhsteinen" übereinstimmen, darf man wohl schließen, daß auch diese dem gleichen Zwecke zu
dienen bestimmt gewesen sind. Nicht unerwähnt soll auch noch bleiben, daß aus Jakob Grimms "Deutsche Rechtsaltertümer" zahlreiche Fälle von Rechtshandlungen
vom frühesten Mittelalter bis in die Zeit der Abfassung jenes für die Volks- und Rechtsgeschichte monumentalen Werkes beigebracht werden könnten, die von Steinen
aus, auf solchen oder in der Nähe derselben, sowie auch, daß Rechtshandlungen von unseren Vorfahren überhaupt gerne - in frühester Zeit in der Regel - unter
freiem Himmel vollzogen wurden. Nicht ohne Belang für den Gegenstand darf vielleicht auch noch angeführt werden, daß
sich in jener Gegend, aus der wir die Nachrichten über die "Gemeindesteine" besitzen, auch eine größere Zahl der bei uns in Gemeinschaft mit den "Ruhsteinen"
vorkommenden alten Steinkreuze befindet, so daß auch aus dieser Übereinstimmung zweier benachbarter Gebiete in
einer alten Gepflogenheit auf die Gleichheit des intendierten ursprünglichen Zweckes der hier betrachteten Erscheinung, der "Ruhsteine" mit den "Gemeindesteinen",
geschlossen werden darf.
Eine nicht unwesentliche Stütze erfährt diese Meinung auch noch durch einen weiteren beachtenswerten Umstand, der nicht nur in der
Sache selbst, sondern auch schon seiner Benennung nach mit den "Ruhsteinen" im direktesten Zusammenhange zu stehen scheint.
Die k.k. Hofbibliothek in Wien bewahrt (unter Nummer 14.093, 10) eine Handschrift, die eine Rechtssammlung
der Stadt Komotau aus dem 16. Jahrhunderte enthält. In dieser Handschrift, die Dr. Alfred Fischel in den "Mitteilungen des Vereines für Geschichte der
Deutschen in Böhmen", XLIV, zum größten Teile veröffentlicht, befindet sich zunächst "Die peinliche Gerichtsordnung", dann "Die Polizeiordnung", weiter
Rechtssatzungen unter dem Titel "Consuetudines" und schließlich einige "Dorfweistümer (Rechtsbelehrungen)
von der Herrschaft Komotau".
Diese letzteren sind es nun, die uns hier im besonderen interessieren. Einmal schon, weil sich
aus der Zeit des 16. Jahrhundertes überhaupt nur wenige deutsche Dorfweistümer aus Böhmen erhalten haben, denn die Gutsherrschaften setzten, wie Dr. Fischel
(nach Čelakovsky) an entsprechender Stelle anmerkt, im 17. Jahrhunderte behufs wirksamer Ausbeutung der Bauern alles daran, die Aufzeichnungen des
Hofrechtes sowie die älteren Urbare (Grundbücher) zu vernichten und bestraften sogar diejenigen, welche sich auf die altenRechtsgewohnheiten und Satzungen
beriefen und die Urkunden darüber nicht ablieferten. Zum andern, weil uns in diesen Aufschreibungen, welche Weistümer
der Ortschaften Wisset, Gaischwitz und Trauschkowitz
(sämtlich bei Komotau) enthalten, ein bemerkenswerter Hinweis auf den ursprünglichen Begriff "Ruhstein" gegeben wird,
der vielleicht an sich schon geeignet ist, die hierzulande bisher angenommene Erklärung der ursprünglichen Bedeutung der Ruhsteine in den "verdienten" Ruhestand
zu versetzen. Diese "Weistümer" werden in der Handschrift nämlich wiederholt als Rueh und Recht bezeichnet, welche
Benennungen der oben genannte Kommentator Dr. A. Fischel als eine mundartliche Abkürzung des für solche Rechtssatzungen unter anderem gebräuchlichen
Wortes Rügung ansieht. Wir lesen da: "Rueh undt Recht des Dorffs Wyset
sambt zugehorigen Dörffern daselbst. - Es ruhe Euch alle, die ins Gericht zum Wyses gehoren: So ein Mann stirbet u.s.w." -
Ferner: "Ruhe und Rechte des Dorffs Kaschwitz (Gaischwitz) bey Sonnenberg." - "Des Dorffs Drauschkowitz
Rueh und Recht etliche Artikel, 1. Artikel: Wir haben in unser Rueh und haben
vor Recht zum Drauschkowitz, daß ein iczlicher Nachtbar in unnser Gemein seiner wolgewonnen Gutter mächtig ist, die weil er u.s.w."
Die oben angeführte Deutung, Rueh als eine mundartliche Abkürzung für Rügung (Rüge) zu
nehmen, erhält dadurch eine bemerkenswerte Stütze, daß auch Luther in Umstellung der Begriffsworte für Ruhe (Rast) die ostmitteldeutsche Form
Ruge gebraucht, deren Erklärung den Sprachforschern allerdings Schwierigkeiten bereitet - vergl. Kluge: Etymologisches
Wörterbuch unter "Ruhe" - während doch die Herleitung unseres neuhochdeutschen "rügen" vom mittelhochdeutschen
"rüegen" (anklagen, beschuldigen, tadeln, vor Gericht bringen) und dieses vom althochdeutschen ruogen (mit der gleichen Bedeutung), wozu auch das
neuhochdeutsche Rüge, mittelhochdeutsch rüege, gehört, als feststehend zu betrachten ist.
Wie auch noch andere, ihrem Sinne nach mißverstandene Benennungen bei dergleichen Dingen, die dem Empfinden des Volkes
nahestehen, Platz greifen können und wie überhaupt die meisten Sagen gewöhnlich einem Mißverständnis ihre Entstehung verdanken, beweist neben vielen anderen
Beispielen auch die zum vorliegenden Gegenstande gehörige Tatsache, daß ein zwischen Saaz und Brüx (bei dem Dorfe Münitz) befindlicher derartiger Stein -
in Anlehnung an gewisse volksetymologische Gesetze - "Ruthstein" genannt wird, weil sich auf ihm eine (erst in neuerer Zeit) mit einer dauerhaften
roten Farbe angebrachte, deutlich zu erkennende und leicht zu lesende Aufschrift befindet und rot, in die dort heimische
Mundart übersetzt, ruth lautet, während die auf dem Steine eingehauene Inschrift "GeorG HEINRICH NEKER VON
MVNIZ DEN 6. IANVARI ANNO 1585" nicht sogleich von jedermann entziffert werden kann und das gleichfalls Kälte verbreitende Datum auch nicht gut zu der über
den Stein im Umlauf befindlichen Sage stimmt, hier wäre ein Mann vom Blitz ersohlagen worden.
Wenn wir auch hiernach eine vollkommen befriedigende Erklärung für die einstige Bestimmung oder Errichtungsursache der "Ruhsteine" für
den einzelnen Fall anzugeben nicht in der Lage sind, so dürfte aus den vorstehenden Auseinandersetzungen, namentlich in Würdigung des über die gleiche
Erscheinung in Westsachsen Vorgebrachten, doch schon jetzt erhellen, daß diese Steine mit dem ihnen heute unterlegten Begriff des Ausruhens ursprünglich
nichts zu tun hatten, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach einem rechtstümlichen, vielleicht (zugleich) auch einem religiösen Zweck zu dienen bestimmt gewesen
sind, wie dies für den einen speziellen Fall des Oberdorfer Steines nach der auf ihm befindlichen Inschrift als erwiesen anzusehen ist. Dabei erscheint es auch nicht
ausgeschlossen, daß ein solcher Stein zuerst dem einen und nachher auch noch einem anderen Zweck gedient hat, wobei die Reihenfolge der sich ablösenden
Bestimmungen keineswegs als gegeben oder feststehend betrachtet werden muß.
Daß die "Ruhsteine" vielleicht auch eine Beziehung zu den über einen großen Teil Norddeutschlands verbreiteten
Ruland-(Roland-) Säulen haben könnten, deren berühmtester Vertreter bekanntlich vor dem Bremer Rathause und eine
Nachbildung davon im Hofe des Germanischen Museums zu Nürnberg steht, wagen wir heute noch nicht laut auszusprechen, wenn wir nach dem oben kennen
gelernten Zusammenhange von "Rueh und Recht" auch einige Berechtigung zu stärkerer Betonung dieser Vermutung im allgemeinen zu haben glauben dürfen und
im besonderen auch noch die Benennung einer nahe bei Komotau, also in der ureigensten Heimat der Ruhsteine, gelegenen Flur
Ruhland nachgerade dazu auffordert. Und da die Rolands-Säulen, trotzdem schon eine Reihe ausführlicher Untersuchungen über sie vorliegt, doch noch
immer des "mächtigen Scheinwerfers" harren, der die darüber lagernden und noch lange nicht vollständig gelichteten Nebel schärfer durchleuchten soll, und uns die
bisher über jene gegebenen Erklärungen, namentlich auch die in letzter Zeit wieder aufgetauchte Popanztheorie, nicht recht befriedigen wollen, so mag es wohl
erlaubt sein, zwei so "dunkle Gestalten" behufs gegenseitigen näheren Bekanntwerdens zusammenzuführen, nachdem wir gefunden haben, daß einige verwandte
Züge denn doch diesen beiden einander bisher als vollständig fremd gegenüber gestandenen Geschlechtsgegossen gemeinsam sind. Es gilt dies vornehmlich von
der Deutung, welche die Rolands-Säulen als Symbole städtischer Freiheit, im besonderen als Zeichen des Blutbannes, also des Rechtes der höchsten ("peinlichen")
Gerichtsbarkeit über "Hals und Hand", aufgefaßt sehen will. Der Komotauer "Galgenberg" liegt vielleicht nicht nur "zufällig"
in der Nähe der Rulandflur.
Inwieweit und ob die Benennung des von der schwarzen Elster (im preußischen Regierungsbezirk Liegnitz) gelegenen Städtchens
Ruhland zu unseren vorstehenden Betrachtungen in Beziehung steht, oder ob diese Bezeichnung nicht etwa bloß auf ein
vorhandenes Roth-(Ruth-)Land zurückzuführen ist, vermögen wir nicht zu entscheiden, wenn uns auch bekannt ist, daß in der dortigen Gegend jene
alten Steinkreuze (Mord- oder Sühnsteine) vertreten sind, die man bei uns, wie schon erwähnt, auch manchmal mit
dem Namen Ruhsteine belegt. Daß aber einer der letzteren aller Wahrscheinlichkeit nach die Veranlassung zur
Benennung der im Böhmerwalde (Bezirk Bischofteinitz, Gerichtsbezirk Hostau) gelegenen Ortschaft Ruhstein
(Gemeinde Eisendorf) gab, wo jene alten Denkmäler gleichfalls noch mehrfach vertreten sind, dürfte nicht in Abrede zu stellen sein.
Ob die Ruh-, Gemeinde- oder Bauernsteine auch anderwärts, außer in den genannten Gebieten des westlichen Sachsens und des
nordwestlichen Böhmens, sich finden, entzieht sich einstweilen unserer Kenntnis; anzunehmen ist es aber, daß sie, der einstigen Verbreitung der Rügengerichte -
über ganz Deutschland - entsprechend, auch in allen Teilen des Reiches zu finden - gewesen sein werden, denn zweifellos
haben schon viele ihren Untergang gefunden, ohne daß auch nur eine Erinnerung an sie erhalten geblieben ist.**)
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die im nordwestlichen Böhmen noch vorhandenen derartigen Steine ihre heutige Anwesenheit zum
größten Teile nur der ihnen von vornherein gegebenen, durch den Menschheitserlöser geheiligten Kreuzesgestalt, die sie ja im allgemeinen zeigen, verdanken, die
ihnen auch, nachdem sie "außer Dienst" gestellt waren, noch Beachtung und Würdigung und nicht zuletzt auch Schonung und Bewahrung vor Vernichtung sicherten,
obwohl gewiß auch von diesen, gleich jenen im Königreiche Sachsen, schon manche ganz beseitigt oder eine anderweitige Verwendung gefunden haben werden, weil
sie dem einen auf der Wiese, dem anderen am Wege, dem dritten beim Hausbau hinderlich waren und diesem oder einem vierten einen guten Grund-, Eck-, Pflaster-
oder Brückenstein abgaben.
Immerhin aber dürfte es noch viele derartige Steine geben, denen man bisher nur keine Beachtung geschenkt hat, die aber wohl ebenfalls
nach und nach eine "anderweitige" Verwendung finden werden, wenn nicht rechtzeitig auf ihre kulturgeschichtliche Bedeutung hingewiesen und ihrem sicheren
Untergange entgegengearbeitet wird.
Bei dieser Gelegenheit fällt uns ein, was vor einigen Jahren von kompetenter Stelle im (sächsischen) Vogtlande über eines der
mehrerwähnten alten Steinkreuze verfügt worden ist, das man, als es sich, weil an einem Abhang (bei Posseck) stehend, immer wieder zur Seite neigte,
um einige Schritte versetzen wollte, wogegen aber die zuständige (sächsische) Kreisbehörde mit der Begründung Einsprache erhob, daß es geraten erscheine,
die Kreuzsteine an ihrem dermaligen Standorte zu belassen, bis die Forschung Über ihren einstigen Zweek beendet
sei.***) Zerstört ist ja bald, was sich oft gar nicht wieder aufbauen läßt und das darum für die Wissenschaft
unwiederbringlich verloren geht. Leider scheint es auch auf unsere Zeit noch immer zu passen, was Jakob Grimm vor mehr als dreiviertel Jahrhunderten (in der
Vorrede zu seinen "Deutschen Rechtsaltertümern") erklärt, daß "der Sinn für volkstümliche Überlieferungen erst dann zu erwachen beginnt, wenn sie eben mit
völligem Untergange bedroht sind". Und doch bedarf es insbesondere auf dem Gebiete der Völker- und Volkskunde noch vieler und sehr viel vollständigerer
Sammlungen und Zusammenstellungen, ehe mit einiger Sicherheit bestimmtere Schlüsse auf die frühesten Erscheinungen und Zustände der Menschen gemacht
werden können, die der Forschung erreichbar sind. Die Erkenntnis dessen ist in der jüngsten Zeit glücklicherweise bei allen Kulturvölkern erwacht und hat, wie
ein verdienter Forscher schon vor mehreren Jahren hervorhob, über ganz Europa hin zur Gründung von Gesellschaften und Vereinen für Volkskunde geführt, in denen
Gelehrte und Nichtgelehrte sich vereinigen, um die volkstümlichen Überlieferungen ihres Heimatlandes zu sammeln, das Gesammelte aber zu erforschen und die
oft so merkwürdigen Beziehungen aufzudecken, welche auf diesem Gebiete Heimat und Ferne, Vorzeit und Gegenwart verknüpfen.
Für unseren vorliegenden Fall bleibt neben der Führung eines unanfechtbaren Nachweises für die sichere Identität der "Ruhsteine" des
nordwestlichen Böhmens mit den "Gemeindesteinen" Westsachsens im besonderen auch noch die Lösung der Frage übrig, ob den Gemeinde-(Ruh-)Steinen nicht
auch die gleiche oder doch eine ähnliche Bedeutung wie den ehemaligen "Dingstühlen" zukommt, bei welchen vordem
im allgemeinen dieselben Rechtsfälle zur Verhandlung kamen wie bei den Rügengerichten. Und da die "Dingstätten" in den ältesten Zeiten zumeist an ehemaligen
Opferplätzen - natürlich unter freiem Himmel - sich befanden, so dürfte man im Verlaufe weiterer Untersuchungen in
zurückschauender Richtung möglicherweise nicht bloß auf einen verwandtschaftlichen Zusammenhang der eben betrachteten Gemeindesteine mit den bis zur
Stunde gleichfalls noch recht rätselhaften "Opfersteinen" schließen dürfen, sondern in herwärts sich bewegender Linie - die alten Steinkreuze und Roland-Säulen
streifend vielleicht auch noch als natürlichen Entwicklungsgang eine verbindende Brücke zu den Marterln, und anderen Votivsteinen oder Erinrierungsdenkmälern
bauen können.
Vor allem aber erscheint es, wie bei allen dergleichen noch näher zu erforschenden Dingen geboten, die noch vorhandenen Steine
aufzufinden und nach ihren Fundorten, Aussehen u.s.w. mit Skizzen oder Photographien und Maßen an eine Zentralstelle bekanntzugeben, alle hierüber wie auch
über heute nicht mehr vorhandene, in der Volkserinnerung - sei es auch nur in der Sage - noch weiter lebenden Steine
zu erlangende Nachrichten (auch Sagen), insbesondere aber urkundliche Spuren darüber zu sammeln; denn erst, wenn eine größere Zahl solcher Steine aufgefunden
und - womöglich mit Abbildungen - beschrieben ist, kann zur weiteren Erforschung der Herkunft und Bedeutung derselben und namentlich auch zu dem vor allem
nötigen Vergleich mit anderwärts vorkommenden derartigen Erscheinungen in zweckdienlicher und erfolgversprechender Weise geschritten werden - ganz so, wie
wir es seinerzeit mit den alten Steinkreuzen hielten, deren Ursprung und Bedeutung in den letzten Jahren auf diesem Wege klargelegt worden ist. Ist dann einmal
das Interesse an dem Gegenstand geweckt, dann wird die Angelegenheit unter Beihilfe arbeitsfreudiger Sammler und sachkundiger Führer schon ihren Fortgang
nehmen und zu einem gedeihlichen Ende führen.
*) Siehe Zeitschr. f. österr. Volkskunde, V 97 und X (Festschrift) 220.
**) Mitteilungen darüber sind erwünscht
***) Eine ähnliche Bestimmung hat übrigens, wie wir hier gerne konstatieren wollen jüngst (März 1906) auch die k.k. Bezirkshauptmannscbaft in
Hietzing mit ihrem Erlasse gegen das unbefugte Graben nach archäologischen Gegenständen getroffen, indem sie verfügte, "daß
die Fundstelle, wenn irgendwie tunlich, einige Zeit unverändert belassen werden soll, um die wissenschaftliche Untersuchung
zu ermöglichen". - Im Oktober 1905 erging auch ein Erlaß der k.k. niederösterreichischen Statthalterei an die Vorstände aller k.k. Bezirkshauptmannschaften
in Niederösterreich betreffend den Schutz von Archivbeständen.
(Zeitschrift für österreischiche Volkskunde, XII.Jg., 1906,S.128-138)
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