Ein zweites Beispiel einer dem historischen Tatbestand nicht entsprechenden
Sagenbildung ist die Spinnerin am Kreuz in Wien (Abb.5). Angeblich - so erzählt das Volk - soll an dieser Stelle jahrelang eine Rittersfrau gesessen und gesponnen haben, auf
die Rückkehr ihres in den Krieg gezogenen Gatten harrend. Nun taucht der Name "Spinnerin am Kreuz" in Wien urkundlich erst in einer Baurechnung von 1809 zum
ersten Male auf, während die Säule selbst bereits im Jahre 1451 an Stelle eines älteren Kreuzes errichtet wurde. Angeblich einer Denksäule, die Leopold III. im Jahre
1375 als Erinnerung an die Länderteilung zwischen ihm und seinem Bruder Albrecht errichten ließ. Außerdem ist es nicht die Säule in Wien, sondern diejenige zu
Wiener Neustadt, welche diesen Namen zuerst aufweist.
(Hula, Franz - Die Bildstöcke, Lichtsäulen und Totenleuchten Österreichs, 1948, S.45)
Spinnerin am Kreuz (Wien X). Wer vorbeigeht, muß ein Kreuz machen, dort sind heidnische Türken eingemauert.
(Wiener Kinderglaube. Ein Beitrag zu "Volksglaube und Volksbrauch in der Großstadt". Gesammelt in Ottakring und Hernals (Wien XVI. und XVII.) von
Oberlehrer Leopold Höfer, Wien. (Fortsetzung.) Wiener Zeitschrift für Volkskunde. (Vormals Zeitschrift für österreichische Volkskunde.) Herausgegeben vom Verein für
Volkskunde in Wien. XXXIV. Jahrgang 1929. I.-III. Heft (Ausgegeben Mitte März 1929.), S.25-33, besonders S.31)
[...] Cäsar sowohl als Tacitus sind des Lobes voll von der Keuschheit der germanischen Jugend.
"Je länger man unverheiratet bleibt, desto rühmlicher ist es. Dadurch wird man nach ihrer Meinung groß, stark und eisennervig. Umgang mit Weibern vor dem zwanzigsten
Jahre ist die größte Schande", sagt jener, und ähnlich berichtet Tacitus. Auch im Mittelalter bis in die Neuzeit ist jungfräuliche Reinheit immer die Forderung deutscher
Sitte gewesen. Strengste Bestrafung, kirchliche wie bürgerliche, wurde der Gefallenen zuteil. Die Dithmarschen begruben sie lebendig im Sumpfe, und noch heute wird in
den brandenburgischen Spinnstuben kein gefallenes Mädchen zugelassen. Vielfach freilich sieht es in dieser Beziehung heute anders aus. Schon zeitig fangen bei der
ländlichen Bevölkerung im Norden wie im Süden die jungen Burschen zu "gasseln Gehen" und zu "Fensterln" an, d.h. bei nächtlicher Weile die jungen Mädchen zu
besuchen. Die Alten haben es nicht anders getan und drücken daher ein Auge zu. Auf dem Tanzboden werden meist die Bekanntschaften angeknüpft. Daher eiferten in
verflossenen Jahrhunderten geistliche wie weltliche Verordnungen immer wieder gegen die "Tanzwut" der Bauern. Vielfach sind auch die Spinn- oder Rocken- oder
Kunkelstuben, hier und da auch Heimgarten genannt, zu Stätten der Unsittlichkeit geworden, jene uralten germanischen Einrichtungen, die schon den alten Römern
auffielen. Einst bestanden sie überall, wo deutsche Geselligkeit und Freude an der Arbeit herrschten, heute sind sie schon in vielen Gegenden geschwunden. Hier
kommen Mädchen und Burschen zusammen. Erst sind die Mädchen allein; sie haben eine Spule abzuspinnen. Dann aber erscheinen die Burschen, und nun beginnen
alle möglichen Neckereien, die nicht selten in Zoten ausarten. Zuweilen werden Märchen und Sagen erzählt oder gemeinsam Volkslieder gesungen. Gesellschaftsspiele,
bei denen der Kuß die Hauptsache ist, und Tänze pflegen den Abend zu beenden, worauf der Bursche sein Mädchen nach Hause bringt. Diese Spinnabende finden an
gewissen Tagen (Dienstag, Donnerstag, Sonnabend) der Woche statt und werden abwechselnd in den einzelnen Familien abgehalten.
Spinnstube und Fensterln hängen aufs engste zusammen. Dem Liebhaber, der dem Mädchen den Spinnrocken zur und von der Rockenstube tragen
darf, ist in der Regel auch der nächtliche Besuch gestattet. Daher heißt es in der Schweiz sowohl dieser wie auch der Besuch in der Spinnstube der Kilt, d.h. Besuch zur
Nachtzeit. Ursprünglich sind diese nächtlichen Besuche wie die Spinnstubenbesuche ganz harmloser natur gewesen; noch im 19. Jahrhundert verteidigte sich in der
Schweiz das Volk mit Entschiedenheit gegen die Angriffe der Geistlichen und Lehrer, die diesem alten Brauch den Krieg erklärt hatten. "Die Herren verstehen das nicht;
sie halten den Kiltgang nur deshalb für böse, weil sie nicht im stande wären, auf ehrliche Weise bei einem Mädchen zu weilen", entgegnete es den Tadlern. Und auch
heute noch sieht man in verschiedenen Gegenden darauf, daß in den Spinnstuben Zucht und Ordnung herrscht. Allein bei den meisten haben sich im Laufe der Zeit arge
Missbräuche eingestellt, und wie die Unsittlichkeit auf dem flachen Lande überhaupt, so ist sie auch in den Spinnstuben eingezogen. […]
(Mogk, Eugen - Die deutschen Sitten und Bräuche, in: Das Deutsche Volkstum, hrgg. von Prof. Dr. Hans Meyer, 2.Auflage, 1903, S.279-280)